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Fünfter Kernwert: Soziale Isolation immer wieder durchbrechen

Radikal ausgeglichen zu sein bedeutet jeden Menschen ernst zu nehmen. Das kann sehr unbequeme Konsequenzen haben. Menschen wirklich ernst zu nehmen und ihnen mit einer offenen Haltung zu begegnen, klingt zwar zunächst ziemlich gut, kann aber in der Praxis sehr herausfordernd sein je extremer die Ansichten meines Gegenübers sind.

Ein kurzes Beispiel zur Erklärung.

In der Sendung „Hart aber fair“ wurde nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke durch einen Rechtsextremen eine Diskussion zum Thema „Wie gefährlich ist rechter Hass?“ ausgestrahlt (ausgestrahlt am 01.07.2019). Dabei führte die Einladung eines AfD-Politikers zu einem Shitstorm. Man dürfe rechten Hetzern keine Stimme geben bei einem solchen Thema. Das würde rechtsextremes Gedankengut im öffentlichen Raum noch mehr salonfähig machen. Doch die ARD stand zu der kontroversen Entscheidung. Meiner Meinung nach zu Recht.

Denn wir müssen einfach überlegen, was wohl passiert wäre, wenn der AfD-Politiker wieder ausgeladen worden wäre.

Egal ob du die AfD ganz toll findest oder dir wünscht, sie würde so schnell wie möglich wieder verschwinden, können wir wohl darüber übereinstimmen dass sie in gewisser Weise die extremste der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ist. Dabei formuliere ich extrem im Sinne von „am meisten anders als die anderen Parteien“. In der AfD wird Vieles grundsätzlich anders gesehen als in den anderen Parteien. Das ist an und für sich nichts Negatives. Wer „out of the box“ denkt, sieht Probleme, die kein anderer erkennt. Auf der anderen Seite heisst es auch nicht, dass die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, richtig sein müssen. Letztlich muss eine sachliche Diskussion stattfinden, um zu einer Beurteilung zu kommen, die ich an dieser Stelle nicht führen möchte.

Auch extremen Gedanken Raum zur Artikulation geben

Eine solche sachliche Diskussion kann aber nicht stattfinden, wenn ich die Andersdenkenden auslade!

Das bringt mich zu unserem letzten Kernwert: Auch extreme Meinungen nicht vor zu verurteilen, lächerlich oder mundtot zu machen. Es kann in einigen Fällen sinnvoll sein, ein öffentliches Statement in einem gewissen Rahmen nicht zuzulassen, gerade wenn eine gewisse Verantwortung für Meinungsbildung gegeben ist. Gleichzeitig ist es im Informationszeitalter zunehmend schwierig geworden, Menschen vor Menschen mit unbequemen Meinungen zu schützen. In den sozialen Medien kann jemand heutzutage fast alles finden, was er finden möchte. Stattdessen sollten wir nach besseren Möglichkeiten suchen, um Ansichten die wir für gefährlich halten nicht stark werden zu lassen. Zum Beispiel positive Visionen zu zeichnen, in denen sich jeder wieder finden kann.

Doch zurück zu unserer Diskussion. Angenommen, die ARD hätte den AfD-Politiker wieder ausgeladen. Was hätte das für Menschen, die der AfD nahe stehen wohl signalisiert?

Hätte es sie überzeugt, dass ihre Ansichten nicht attraktiv sind und sie ihre Meinungen dringend überdenken sollten? Hättest du das in so einem Fall getan? Ich denke, eine Antwort erübrigt sich. Die Versuche jemanden mit Sanktionen und Ignoranz zum Umdenken zu bewegen, entspricht einer schlechten Kleinkind-Pädagogik. Und selbst wenn man den Eindruck bekommen kann, dass manche Erwachsene sich bis heute einige Kleinkind-Attitüden behalten haben, will ich das persönlich nicht auch noch bestätigen.

Unsere Handlungen haben immer Auswirkungen

In den anderen Artikeln über die Kernwerte habe ich darüber geschrieben, dass wir uns nicht einfach dauerhaft isolieren können, in der Hoffnung unsere Konflikte lösen sich in Luft auf. Unsere Handlungen haben immer Auswirkungen auf unsere Umgebung. Die Umwelt zeigt das am Deutlichsten, sie macht nicht Halt an Ländergrenzen und keinen Unterschied zwischen Rasse, Geschlecht und sozialem Stand. Der Gedanke dass Isolierung und Trennung eine dauerhafte Lösung vor Problemen sein könnte, ist meines Erachtens einer der zentralen Gründe für die soziale Spaltung einer Gesellschaft, denn er führt zur Ausgrenzung. Ausgrenzung aber führt dazu, dass Menschen sich zunehmend nicht mehr verständigen können. Das Gefühl sich sprachlich nicht mehr mitteilen zu können, kann dann dazu führen, dass man auf eine andere Sprache zurückgreift, um seinen Frust kundzutun: Gewalt.

Einen konstruktiven Umgang mit dem anderen einüben

Ein gutes Beispiel für diese Dynamik ist meines Erachtens in der Studentenbewegung in den sechziger Jahren zu finden. Die relativ kleine Gruppe, die gesellschaftliches Leben anders lebte als die grosse Menge, wurde von den Politikern grossteils ignoriert. Eine kleine Gruppe aus dieser Bewegung trieb es schliesslich in den Terrorismus, mit der RAF als der prominentesten gewalttätigen Gruppierung, die aus der Studentenbewegung hervorging. Dabei führten RAF-Mitglieder den Schritt in den Terrorismus direkt auf die Ignoranz zurück, die der Studentenbewegung durch das politische Establishment entgegen gebracht worden war und der sie zu dem Schluss verleiten liess ihre Ziele nur noch auf dem Weg der Gewalt erreichen zu können.

Denken wir uns stattdessen folgendes Szenario: Die Politiker und Verantwortlichen hätten nach kurzer Verwunderung und Bestürzung den Schluss gezogen, dass sie etwas Wichtiges offensichtlich nicht beachtet hatten. Das ist nicht einmal besonders schlimm, es ist für den Berufspolitiker sicher nicht einfach, immer im Blick zu behalten, was sich in einer pluralen und höchst unterschiedlichen Gesellschaft gerade bewegt. Und nun angenommen, sie hätten sich eine Haltung des Voneinander-Lernens und Verstehenwollens beibehalten. Man hätte sicher nicht alles umgesetzt, was die Studenten für erstrebenswert hielten, denn auch jede Oppositionsbewegung sieht manches verzerrt. Doch man hätte so viel Dampf aus der gesellschaftlichen Kontroverse nehmen können mit ein bisschen Demut und Bemühen um Verstehen und vielleicht sogar die Radikalisierung verhindert.

Immer wieder die Beziehung suchen

Was ist die Schlussfolgerung aus diesem letzten und vielleicht kontroversesten Kernwert?

Auch mit Menschen mit extremen, ja sogar mit gefährlichen Meinungen das Gespräch weiter zu suchen. Wenn wir uns als Familie verstehen, glauben wir, dass auch der andere Mensch mit extremen und vielleicht absonderlichen Meinungen uns etwas zu sagen hat, denn er ist immer noch ein Mensch und auch wenn ich die Interpretationen seiner Erfahrungen nicht teile, so nehme ich doch seine Erfahrungen und Erlebnisse ernst.

Jede Form von Ignoranz und sozialer Isolierung sagt dagegen nichts anderes, als dass der Mensch mir egal ist. Dann lebt er aber immer noch mit mir auf dieser Welt und unser Leben ist auf komplizierte Art miteinander verwoben. Wir sind wie ein Ökosystem untrennbar miteinander verbunden. Ich müsste ihn schon auslöschen, damit ich sicher sein kann, dass er mir nicht begegnet und sein Verhalten keine Konsequenzen hat. Doch dieser Gedanke ist der Beginn jeder humanitären Katastrophe.

Es ist die Wertschätzung voreinander die uns zum Fremden treibt und das Bewusstsein, dass wir einander brauchen um gut zusammenleben zu können.

Der Weg dorthin aber ist nicht einfach. Für manch einen sogar unmöglich . Das ist okay für den Moment und wir sollten nicht erwarten dass Gräben schnell überwunden werden. Aber es darf kein Dauerzustand bleiben!

Jeder kann für dich der Fremde sein. Der Wutbürger, der Flüchtling, die Homosexuelle, die Christin, der Moslem, der Fussballfan von der gegnerischen Mannschaft. Aber eines ist sicher: Weil wir einander wertschätzen und sogar benötigen, suchen wir immer wieder die Beziehung.

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