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Vierter Kernwert: Wir wollen beständig lernen und verstehen

Es dürfte in den letzten Kommentaren deutlich geworden sein, dass die innere Einstellung und Haltung bei „Radikal ausgeglichen“ wichtiger ist, als das äusserlich Sichtbare. Die Lebenseinstellung eines Menschen ist wie ein Dirigent, der die Entwicklung und das was äusserlich sichtbar ist, steuert.

Nicht anders ist es auch bei dem vierten Kernwert: Eine Einstellung des Lernen- und Verstehenwollens bei zu behalten. Wichtig dabei ist: Das bedeutet nicht, keine klaren Meinungen zu haben. Das wäre nicht radikal ausgeglichen. Es bedeutet vielmehr, seine Meinung jederzeit ändern zu können.

Voneinander zu lernen ist immer möglich

Dabei ist es immer möglich vom anderen zu lernen, selbst wenn mich seine Sachargumente nicht überzeugen. Stell dir vor du triffst einen Menschen, der davon überzeugt ist, dass die deutsche Stadt Bielefeld nicht existiert (es gibt ja die Bielefeld-Verschwörung, Näheres dazu findest du im WWW). Du bist dir dagegen ganz sicher, dass die Stadt Bielefeld existiert. Was ist deine innere Haltung? Willst du deinen Gegenüber davon überzeugen, wie unwissend er ist und dass du über die Wahrheit sehr gut Bescheid weißt. Oder bist du daran interessiert daran zu verstehen, warum der Mensch so denkt?

Ich bin absolut davon überzeugt, dass Bielefeld existiert. Doch mittlerweile habe ich mir eine Haltung angewöhnt, sogar die Begründung der absonderlichsten Meinungen interessiert anzuhören. Und selbst wenn ich auf einer sachlichen Ebene nicht überzeugt wurde, so habe ich doch etwas gelernt: Zu verstehen, wie Menschen zu einer so anderen Meinung kommen können. In diesem Fall erzählt mir der Mensch nichts Neues auf einer sachlichen Ebene sondern über seine Biographie, also wie er zu seiner Überzeugung gekommen ist. Und wenn mein Ziel ist, Leben auf allen Ebenen zu fördern, ist mir sehr daran gelegen, wie Menschen zu gewissen Überzeugungen kommen. Denn sie bauen eine Brücke und eine Verbindung zu einem Menschen der von mir davor bloss in eine mehr oder weniger sympathische Schublade gesteckt worden war.

Die vier Ohren und die grüne Ampel

Ich möchte an einem einigermassen bekannten Beispiel veranschaulichen, dass es verschiedene Ebenen gibt, auf denen wir lernen und Informationen gewinnen können. Lernen und verstehen zu wollen betrifft also nicht nur die sachliche Ebene.

Friedemann Schulz von Thun beschreibt vier verschiedene „Ohren“ mit denen wir Informationen aufnehmen können (Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden). Diese Ohren hören eine Botschaft auf unterschiedlichen Ebenen. Als Beispiel beschreibt Schulz von Thun das in einem Szene in der ein Auto mit Fahrer und Beifahrer auf eine Ampel zufährt. Während sie sich der Ampel nähern, sagt der Beifahrer: „Die Ampel ist grün.“ Der Fahrer kann diese Aussagen nun auf die vier verschiedenen Weisen hören, für die die „Ohren“ stehen. Das erste Ohr ist das „Sachohr“ , welches die Information an sich hört. Wenn der Fahrer die Information nur auf der sachlichen Ebene verarbeitet, erfährt er nichts Neues. Er sieht selber, dass die Ampel grün ist.

Doch er kann die Nachricht auch auf dem „Appell-Ohr“ und dem „Beziehungsohr“ hören. Kurz zusammengefasst hören wir mit dem Appell-Ohr Aufforderungen. Hier hört er hinter der Aussage mit der grünen Ampel, den Befehl „Gib Gas“. Das Beziehungsohr hört dagegen immer ein Beziehungsgeschehen heraus. Hier wird die Aussage über die grüne Ampel dahingehend interpretiert, dass der andere mich für einen langsamen Fahrer hält und wahrscheinlich unzufrieden mit meinem Tempo ist. Zuletzt kann ich die Aussage noch auf dem „Selbstoffenbarungsohr“ hören. Hier teilt mir der andere etwas über sich selbst mit. Hier lerne ich also etwas über den anderen! Der Beifahrer scheint ein aufmerksamer Beifahrer zu sein. Doch er ist nicht nur aufmerksam, er mischt sich auch ein. Anstatt die Aussage als eine Kritik an meinem Fahrstil zu sehen, kann ich also schon zwei offensichtlich positive Eigenschaften bei meinem Beifahrer erkennen: Er ist aufmerksam und proaktiv. Ich kann also von dem was eine Person sagt immer etwas lernen, wenn ich mit dem Selbstoffenbarungsohr höre. Und vielleicht manche dieser positiven Eigenschaften für mich übernehmen.

Nicht alles ist richtig, aber alles ist wichtig

Wenn wir die Wahrheit nur in Stücken erkennen (wie im immer noch gültigen postmodernen Paradigma), dann ist die persönliche Ebene mindestens genauso wichtig wie die sachliche Ebene. Denn das sachliche Argument einer Person äussert sich immer innerhalb ihres persönlichen Hintergrunds. Die Biographie und die persönlichen Verletzungen einer rassistischen Persönlichkeit können mir helfen, zu verstehen wie diese Person zu ihren Überzeugungen kommt, selbst wenn ich sie nicht teile. Ich konnte immer wieder feststellen, dass wenn ich Menschen auf einer verständnisvollen, anteilnehmenden Ebene begegnete, ich ihnen auch auf eine konstruktive Weise widersprechen konnte.

Es ist klar dass nicht jede Meinung richtig sein kann. Doch will ich festhalten, dass die Meinung jedes Einzelnen wichtig ist. Die Worte „Wichtig“ und „Richtig“ unterscheidet nur ein Buchstabe. Doch den Unterschied zwischen beiden zu verstehen ist zentral. Richtig soll hier bedeuten, dass das Argument für sich genommen vollkommen korrekt ist so wie eins plus eins zwei gibt. Hier muss nicht mehr gesagt werden.

Wichtig bedeutet dagegen, dass das Argument entscheidend dazu beiträgt um die ganze Wahrheit abzubilden. Wenn eine Person Angst hat vor der „Überfremdung des Abendlands“ dann bildet diese Aussage einen Teil der Wahrheit ab, weil die Angst der Person real ist und nicht ignoriert werden darf. Gleichzeitig sagt sie nichts darüber aus, ob es im Allgemeinen angemessen ist, von einer Überfremdung des Abendlandes zu sprechen. Diese muss in einem allgemeinen Diskurs ermittelt werden.

Vielleicht ist die Erkenntnis, das Selbstoffenbarungsohr berücksichtigen zu müssen für dich nichts Neues. Doch wenn du siehst, wie viele Diskussionen ohne „Ich-Botschaften“ versuchen ihre Agenda durchzudrücken, dann wird vielleicht deutlich, dass dieses Ohr bei Vielen von uns noch nicht besonders gut hört. Es muss trainiert werden!

Du kannst dir jetzt also für die nächste Diskussion fest vornehmen, den Mensch hinter der Fassade verstehen zu wollen und vielleicht eine persönliche Frage zu stellen.

Das ist meines Erachtens auch der Schlüssel für einen guten Umgang mit Meinungen die am äusseren Rand des üblichen Spektrums liegen und oft kontrovers diskutiert werden. Dazu mehr im Artikel über den fünften Kernwert „Keine Meinung wird ignoriert.“

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