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Verständigung gescheitert – was nun?

Der schreckliche Krieg in der Ukraine dominiert unsere Öffentlichkeit seit mehreren Wochen. Obwohl sich ein Krieg seit mehreren Wochen und Monaten angekündigt hatte, waren doch viele Menschen und auch ausgewiesene Experten der Überzeugung dass es nicht zu einem offenen Krieg kommen würde. Wie wir heute wissen, haben sie sich geirrt.

Alle diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung oder einen Interessensausgleich sind gescheitert. Wieder einmal scheint der Kompromiss eine weniger attraktive Lösung zu sein, als das Festhalten an den eigenen Prinzipien. Was bedeutet das für die Bemühung eines guten Zusammenlebens auch über nationale Grenzen hinweg? Sollten wir dieses Projekt ebenfalls für gescheitert erklären?

Um es kurz zu machen: Nein, ich habe weiterhin grosse Hoffnung dass wir als Menschen aus unseren Ego-Bunkern und Interessenslagern ausbrechen. Was gibt mir die Hoffnung? Was lässt mich aufblicken?

Als ich diesen Blog Ende 2019 gestartet habe, gab es bereits eine erhebliche Spaltung in unserer Gesellschaft. Diese hat sich in der Folgezeit eher noch verstärkt. Die immer noch nicht ganz überwundene Corona-Pandemie hat ihr Übriges getan. Es war auch für mich schmerzhaft zu sehen, wie die Meinungen von Freunden und Menschen in meinem Umfeld in dieser Zeit auf einmal immer weiter auseinander gingen. Doch je deutlicher diese Unterschiede wurden, desto mehr habe ich bei mir selbst festgestellt, dass meine Überzeugung noch fester wurde: Ich will keine Feindbilder bauen. Auch wenn ich meine eigenen Überzeugungen zu der Pandemie habe, will ich nicht an den Punkt kommen, an dem ich Menschen in Freunde und Feinde einteile. Der Krieg in der Ukraine ist eine grosse humanitäre Katastrophe und jedes verlorene Menschenleben ist eines zu viel. Doch auch dieser Krieg wird meine Überzeugung nicht verändern, dass der mühsame Weg, der eine Kultur des guten Zusammenlebens möglich macht, weiter lohnenswert ist.

Krisenzeiten sind oft auch Zeiten für einen Neubeginn! Krisenzeiten haben das Potential uns auf den Grund des Ursprünglichen zurück zu bringen. Die Suche nach dem Ursprünglichen bringt uns zu dem zurück, was uns alle ausmacht. Ich denke an einen Säugling. Die Bedürfnisse eines Säuglings unterscheiden sich nicht stark von denen anderer Säuglinge. Erst wenn wir älter werden, beginnen sich unsere Bedürfnisse und Interessen immer mehr zu verändern. Wir beginnen zu vergessen, was uns verbindet und eint. Erst wenn es existenziell wird, wird uns das Ursprüngliche wieder bewusst. Das geschieht nicht selten am Ende des Lebens aber auch in Krisenzeiten. Was ist, wenn das was uns eint, viel grundlegender ist, als das was uns unterscheidet? Dann kann jede Krise nur dazu führen, dass das Bewusstsein für das was uns eint, wieder deutlicher wird! Zuerst kommt die Spaltung, doch eine natürliche Folge daraus ist, dass ein gestärktes Bewusstsein für die grundlegende Einheit entsteht.

Tatsächlich kann man trotz der gescheiterten Diplomatie vor dem Ukraine-Krieg auch Argumente dafür finden, dass die Menschen näher zusammenrücken. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Menschen davor eine so weltweite Stimme der Solidarität an diejenigen richten, die vom Krieg betroffen sind. Bislang gibt es keine Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingskontigenten. Die Europäer stehen geschlossen wie selten in ihrer Verurteilung des Kriegs. Und selbst in Russland gibt es viele Menschen die den Krieg als sinnlos empfinden. Das Bewusstsein, dass wir eine Menschheit sind, die miteinander verbunden ist und aneinander Anteil hat, ist mir gerade in dieser schrecklichen Zeit des Krieges noch deutlicher geworden.

Trotzdem entsteht eine Kultur des guten Zusammenlebens nicht einfach automatisch in Krisenzeiten. Es ist eine Sache wenn uns in den existentiellen Krisenzeiten deutlich wird, worin wir uns einig sind und was uns verbindet. Doch es ist eine ganz andere Sache, sich dann bewusst danach auszustecken und sich darum zu bemühen, dass wir uns in den Zeiten des Friedens nicht gleich wieder in unsere unterschiedlichen Lager aufspalten. Zum Beispiel befürchte ich, dass die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine sich abnutzen kann, wenn der Krieg noch länger wird oder wenn steigende Lebenshaltungskosten in Westeuropa die Aufmerksamkeit wieder ganz schnell auf die eigenen Probleme lenken. Und machen wir uns nichts vor: Die Ukraine ist nicht der einzige Kriegsschauplatz auf der Welt im Moment. Im Sudan, in Mali, Nigeria, Somalia, in Libyen und auch immer noch in Syrien finden derzeit bewaffnete Konflikte statt. Diese Konfliktherde sind aber geographisch weiter entfernt, so dass sie uns nicht zu nahe kommen. Was also können wir tun, um nicht zu vergessen?

Es sind die Zeiten des Wahrnehmens und Innehaltens, die uns in Verbindung mit der Not anderer Menschen halten. Kontemplation ist der Weg der meine Gefühle sanft wie ein Schiff steuert und sie an den ursprünglichen Ort unserer ersten Lebensjahre führt. In der Ursprünglichkeit und Verbundenheit mit allen anderen. An den Ort, an dem es keine Feinde gibt, sondern maximal Fremde und im besten Fall Freunde. Für diesen Weg muss ich mich aber jeden Tag neu entscheiden. Ich kann mich schnell wieder in den Debatten verlieren, die die Unterschiede betonen. Oder ich versteife mich darauf, wer nun Recht hat. Darum sind vielleicht die lautesten und auffälligsten Stimmen in diesen Konflikten gerade nicht die, die nachhaltige Lösungen anbieten können. Denn eine Kultur des guten Zusammenlebens, die nachhaltig sein will, entsteht in der hochprofessionalisierten Kultur des Westens gerade nicht durch die messerscharfe Analyse der Konfliktsituation sondern durch eine regelmässige Praxis in der ich lerne meine Gefühle immer wieder mit dem Ort der Ursprünglichkeit zu verbinden.

Ich bin gefragt worden, wann ich einmal wieder einen Blogbeitrag schreibe. Es freut mich natürlich, dass es Bedarf nach neuen Beiträgen gibt. Und ich hätte auch zu vielen zeitgenössischen Themen etwas schreiben können. Da wäre zum Beispiel die Frage, wie ein gutes Zusammenleben mit unserer nicht-menschlichen Umwelt aussehen könnte. Die Zerstörung und Ausbeutung unserer Umwelt und vor allem der Klimawandel zeigen, dass wir unsere Umwelt noch kaum verstanden haben und erst lernen müssen das ein “Interessenkonflikt” mit unserer Umwelt ganz anders gelöst werden muss, als mit sprechenden Menschen. Doch scheint mir im Moment eine Zeit des Schweigens angebrachter als eine Zeit des Produzierens. Diese Zeit des Schweigens ist keine passive Zeit der Ohnmacht, sondern eine Zeit der Achtsamkeit. Denn ich achte darauf, den Ort der Ursprünglichkeit nicht zu vergessen.

Wenn es von mir also auch keine Beiträge im Wochentakt gibt, so will ich dich doch ermutigen: Die Zeit der Stille ist keine Zeit der Untätigkeit und keine Zeit der Resignation. Nicht nur ich, auch viele andere arbeiten in der Stille daran, dass wir nicht vergessen: Wir sind miteinander verbunden. Jede(r) Einzelne ist wichtig! Das Band der Liebe und Anteilnahme, das über blosse Toleranz und leidiges Ertragen hinausgeht, wächst in der Stille.

Wenn du dich für einen weiteren Kommentar zur Kraft des Schweigens in Zeiten des Krieges interessierst, kann ich dir folgenden Link empfehlen:

Es herrscht Krieg und ich bin still: Zur Bedeutung einer Praxis des Schweigens in Zeiten der Krise | Sola Gratia (sola-gratia.ch)

Ein Blick ins Morgen?

In meiner freien Zeit heute habe ich ein Manifest geschrieben, dass manches meiner Hoffnung und Gebete zum Ausdruck bringt. Gerne lasse ich Dich daran teilhaben:

Ich sehe Menschen die aufgehört haben, sich selbst verwirklichen zu wollen, weil sie bereits angekommen sind.

Sie wissen um ihren Wert und hören auf die Stimme in ihnen, die ihnen sagt: “Du bist okay.”

Sie sind nicht mehr am Suchen und sie müssen nicht mehr für sich selbst kämpfen, weil ihre innere Realität ihnen deutlich macht, dass sie dazugehören.

Ich sehe Menschen, die sich von dem Minimalkonsens sich gerade so zu tolerieren, verabschiedet haben.

Sie gehen zu denen, zu denen sonst keiner geht, weil sie die Abgehängten und Ungewollten nicht sich selbst überlassen können.

Und weil sie wissen, dass dieser Gesellschaft etwas fehlen würde, wenn auch nur ein Einziger von diesen nicht dabei wäre.

Was Gott mit diesem Thema zu tun hat (oder haben könnte)

Was lange dauerte, hat nun ein Ende: Die Zeit der Stille ist zu Ende und ich schreibe wieder einmal. In der letzten Zeit hatte ich sehr viel Aufwand für mein Studium zu betreiben, so dass ich nicht noch zusätzliche Energie hatte, um mich mit den Themen meines Blogs zu beschäftigen. Die erste gute Nachricht ist die: ich habe mein Studium erfolgreich abgeschlossen! Die zweite gute Nachricht ergibt sich daraus: Ich habe wieder Energie und Zeit für einen Beitrag.

Dabei hat mich ein Thema schon eine längere Zeit beschäftigt. Wie ich in früheren Blogbeiträgen bereits habe durchblicken lassen, bin ich angehender Pastor in einer christlichen Kirche und glaube an die Existenz eines Gottes, dem ich mich auch persönlich anvertraut habe. Sonst würde ich in meinem Tätigkeitsfeld wohl irgendwie auch am falschen Platz sein. Die meisten meiner Leser kommen aus einem ähnlichen Hintergrund. Und dennoch bleibe ich dabei: Dieser Blog soll so geschrieben sein, dass auch Menschen die sich damit nicht explizit definieren, mit dem Inhalt etwas anfangen können.

Aber wie ist das dann mit Gott? Ist Gott bloß eine nette, private Größe in meinem Leben, die ich auf diesem Blog nur erwähne weil ich zu einem christlichen Publikum schreibe? Oder hat mein Glaube auch etwas mit meinen Inhalten zu einem besseren Zusammenleben zu tun als Gesellschaft zu tun?

Mit dieser Frage habe ich mich zuletzt beschäftigt und ich will versuchen eine Antwort zu geben.

Ich möchte mit einer Beobachtung des Problems beginnen, dass ich aus soziologischer Sicht bereits betrachtet habe. Wenn wir in die Welt hinausschauen sehen wir unzählige Konflikte: Verteilungskämpfe, die zwar nur selten mit Waffen ausgefochten werden, aber trotzdem unzählige Probleme verursachen. Wenn man in die politische Landschaft schaut, sieht man Konflikte in der Frage wie man die Probleme und Herausforderungen der heutigen Gesellschaft am Besten löst. Was ist die richtige Strategie? Dabei ist jede Partei Anwalt ihrer Anhänger und versucht Argumente dafür zu finden, warum deren Probleme die eigentlichen Probleme einer ganzen Gesellschaft sind.

Wenn wir nun einen Blick auf eine kleinere Struktureinheit menschlicher Beziehungen schauen, finden wir das Gleiche: Ehepartner, die sich an den unterschiedlichen Vorstellungen über die Gestaltung des Familienlebens auseinanderleben. Oder die Konflikte auf dem Arbeitsplatz, wo der Arbeitskollege versucht einen Teil der eigenen Arbeit, der ihm zu viel wird, auf einen abzuwälzen.

Sie alle speisen sich von einem gewissen Erwartungsrahmen den wir an unsere Umwelt stellen, damit wir unser Leben als gelungen wahrnehmen. Bis zu einer gewissen Grenze sind Kompromisse für uns unproblematisch, doch wenn unser Erwartungsrahmen gestört wird, dann ist der Ärger vorprogrammiert. Daraus entstehen Enttäuschungen, vermehrte Anstrengungen, die die oben genannten Konflikte noch befeuern und vielleicht am Ende eine verbitterte Persönlichkeit, die für diese Welt nur noch böse Worte übrig hat.

Nun jedoch die Frage: Welche Rolle spielt für mich Gott in diesem Themenfeld?

Ich möchte es in drei Sätzen formulieren:

Gott erlebe ich als den, bei dem ich so sein darf wie ich bin…kein Erwartungsdruck.

Bei Gott erlebe ich Fülle…er entspricht meinen Erwartungen und übertrifft sie sogar.

Bei Gott erlebe ich Freiheit, weil ich finde was ich suche ohne mühevoll und mit der Ungewissheit um Erfolg darum kämpfen muss.

Am deutlichsten ist das für mich in der Person Jesus sichtbar, der sowohl Gott als auch mich als Mensch repräsentiert.

Die Berichte über Jesus erzählen davon, dass er sein Leben ganz dem Dienst an den Menschen gewidmet hatte. Da war kein Erwartungsdruck von seiner Seite an die Menschen der mit Sanktionen oder reduzierter Zuneigung gepaart war. Jesus hat sich nicht auf einen Kampf mit seinen Mitmenschen eingelassen, um seine Ziele zu erreichen. Auf diese Weise repräsentiert er Gott.

Doch auch Jesus hat Zeiten des Rückzugs gebraucht, in denen er zu Gott gebetet hat. Dort hat er Kraft und Hoffnung bekommen für den Dienst an den Menschen. Auch Jesus hatte Zeiten in denen ihm dieser Lebensstil auf die Substanz ging und in denen er im Gebet an Gott, der Annahme, Fülle und Freiheit schenkt wieder Ausrichtung und Erneuerung bekam. In dieser Hinsicht repräsentierte Jesus uns Menschen.

Auch für mich ist das Gebet die Form geworden, um bei Gott das zu finden, was mir Menschen oft nicht geben können. Nur dadurch bin ich auf Dauer in der Lage nicht in diesen oft destruktiven Kampf mit Menschen zu treten, der dadurch entsteht, dass mein Erwartungsfeld nicht erfüllt wird.

Mehr noch: Es gibt mir Kraft wie Jesus Not in der Welt entgegen zu wirken. Mein Glaube führt nicht dazu, dass ich mich aus der Welt zurückziehe, sondern befähigt mich, ihr auf eine ganz neue Weise zu begegnen: Nicht als einer, der ständig etwas braucht und auf Suche ist, wer es ihm gibt, sondern als einer der selbst etwas zu geben hat: Sich selber! Das ist die Rolle die Gott für mich in der Frage spielt, wie wir gut zusammenleben können: Er gibt mir Annahme, Fülle und Freiheit, die ich so nirgends sonst finde, was mir dann mehr Geduld, Liebe und Mitgefühl gibt.

Wie ist es bei Dir? Spielt Gott in deinem Leben auch eine Rolle? Und wenn ja, welche? Dann schreibe es doch gerne hier unten in die Kommentarzeile oder wenn du nur mir schreiben möchtest, an sschmiedl@freenet.de.

Allen alles Gute

Euer Sascha

Lässt du dich immer wieder überraschen?

Es ist mal wieder an der Reihe einen der Kernwerte mit biblischem Material zu unterfüttern. Hier findest du den ersten Kernwert den ich von einer biblischen Seite betrachtet habe. Heute werde ich mich mit dem vierten Kernwert näher beschäftigen. Mit ihm trete ich für eine Haltung ein, die immer wieder offen ist, dazu zu lernen und die eigene Sicht der Dinge zu erweitern.

Dieser Kernwert ist meines Erachtens eng mit der christlichen Botschaft verbunden obwohl die Kirche diesen Wert in ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte nicht immer vorbildlich gelebt hat. Denn man muss ehrlich gestehen: Nicht selten ist die Kirche als eine Grösse gesehen worden, die auf der Seite der bewahrenden Kräfte gestanden hat. Viele Kreise der Kirche haben sich in der entstehenden neuzeitlichen Kirche gegen wissenschaftliche Entdeckungen gestellt, die sie als Gefährdung ihrer Theologie sahen.

Der Prozess der römisch-katholischen Kirche gegen Galileo Galilei, bei dem es darum ging, ob sich die Erde um die Sonne dreht, oder anders herum, ist eines der Beispiele bei dem die Kirche so sehr an ihren alten Überlieferungen festhielt, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, falsch zu liegen.

In der Bewegungen der Arbeiter und der einfachen Leute für mehr Rechte gegenüber den Adligen in Europa stand die Kirche oft auf der Seite der etablierten Kräfte anstatt sich für gerechtere soziale Verhältnisse einzusetzen.

Und auch heute gibt es christliche Bewegungen, die sich Neuem bewusst widersetzen: Zum Beispiel lehnt eine erhebliche Gruppe an Christen in Amerika die Evolutionstheorie entscheiden ab. Es stimmt wohl immer noch: Das Image, dass sich die Kirche in der westlichen Welt gibt wirkt wohl auch heute bei vielen Beobachtern mehr konservativ als progressiv. Dass sich dieses konservative Image nun durch viele Jahrhunderte hinzieht ist schon bemerkenswert, gerade deswegen weil die Anfänge des christlichen Glaubens mit einer erstaunlichen Reform des herkömmlichen jüdischen Glaubens dieser Zeit einhergingen.

Eine kurze Zeitreise in die Vergangenheit

Lass mich einen Ausflug an Zeit und Ort der Entstehung des christlichen Glaubens machen und ein bisschen von der Kultur und Religion erzählen, in der die christliche Bewegung ihren Ursprung nahm.

Der christliche Glaube entstand ab 30 als eine Reformbewegung innerhalb des jüdischen Glaubens. Dabei betrachteten die ersten Christen Jesus Christus als eine von Gott gesandte Figur, die schon lange in ihren heiligen Schriften angekündigt worden war. Jesus hatte Gottes Willen aufgezeigt durch sein Leben und Handeln, seine Zuwendung für die Armen und Unterdrückten, für die er sich einsetzte und die er an Körper und Seele gesund machte. Jesus erlaubte sich das jüdische Gesetz neu auszulegen und sah die Liebe gegenüber dem Mitbewohner als das wichtigste Gesetz an.

Mit dieser Haltung wandte er sich stark gegen traditionelle Lehrmeinungen und auch gegen die oberste jüdische Glaubensbehörde dieser Zeit. Das brachte ihn in heftigen Gegensatz zu den jüdischen Glaubensautoritäten seiner Zeit, die ihn kreuzigen liessen, weil er behauptete in göttlicher Autorität zu handeln was gotteslästerlich war. Seine Nachfolger blieben in scharfer Abgrenzung zum jüdischen Mainstream, auch deswegen weil sie der Überzeugung waren, dass Jesus von Gott von den Toten auferweckt worden war. Damit unterstrichen sie ihre Überzeugung dass Jesus von Gott gesandt war. Dies könnte nun ein völlig uninteressanter Streit um die Auslegung des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Schriften sein, doch es ist wichtig zu sehen, dass sich die meisten Anhänger von Jesus auch zehn Jahre nach der Kreuzigung Jesu noch immer als Juden sahen! Sie sahen sich weiterhin in der Tradition des jüdischen Glaubens die sich durch den Auszug aus Ägypten durch Mose und der jüdischen Glaubensüberlieferung, der Tora begründeten. Sie sahen Jesus als Reformer des Judentums, jedoch in der Tradition des Judentums. Und das hiess, dass man einer Menge Sitten des jüdischen Glaubens nachging.

Wider die Gewohnheit

In der Bibel wird uns nun eine Geschichte erzählt die ziemlich genau in diese Zeit hineinspielt. Der Jesus-Nachfolger Petrus, einer der engsten Begleiter von Jesus zu seinen Lebzeiten wird von einem römischen Hauptmann namens Kornelius eingeladen, ihm und seinem Hausstand von diesem Jesus zu erzählen. Es wird davon berichtet dass Kornelius bereits ein Anhänger des jüdischen Glaubens war, jedoch war er nicht beschnitten, was für jeden männlichen Juden ein Zeichen der Glaubenszugehörigkeit war. Der Kerl sympathisierte mit dem jüdischen Glauben doch er hielt es lieber unverbindlich. Und mit Jesus hatte er bislang gar nichts am Hut. Doch nun lud er Petrus ein, ihm von diesem Jesus zu erzählen.

Das brachte Petrus in ein ziemliches Dilemma. Denn als Jude war es Petrus eigentlich nicht gestattet, das Haus eines Nichtjuden zu betreten. Für uns klingt das heute ziemlich rückständig, aber so war es damals nun mal üblich. Es war eben eine der jüdischen Sitten zu dieser Zeit.

Nun passiert etwas ziemlich Komisches: Petrus hat eine Vision in der ihm deutlich gemacht wird, dass kein Mensch wegen irgendwelcher Traditionen “unwürdig” war, besucht zu werden. Wie das mit dieser Vision genau vor sich ging, will ich hier nicht näher beschreiben, doch man kann es in der Bibel nachlesen (in der Apostelgeschichte im zehnten Kapitel).

Das eigentlich Interessante: Gott zeigt Petrus in einer Vision, dass er sich nicht mehr an einen Brauch halten sollte, von dem Petrus glaubte, dass er von Gott war!

Doch das war noch nicht alles. Es heisst, während Petrus das erzählte, “fiel” der Heilige Geist auf Kornelius und alle dort waren und sie begannen “in Sprachen zu beten.” Vielleicht denkst du dir “Was um Himmels willen ist das jetzt”`? Das ist sehr verständlich. Doch für Petrus war das nichts Ungewöhnliches. Denn er selbst hatte kurz nach den Ereignissen die zu Jesu Tod und Auferstehung führten in einer Gebetszeit mit anderen Anhängern von Jesus ein “Durchbrucherlebnis” bei dem alle dort anwesenden auf einmal in einer unbekannten Sprache redeten und sich trotzdem verständigen konnten. Es war für sie Zeichen, dass Gottes Geist mit ihnen war und dass er auch ohne Jesus mit ihnen gehen würde! Unser heutiges Pfingstfest geht auf dieses Ereignis zurück.

Doch etwas anderes war für Petrus sehr ungewöhnlich: Dass der Geist Gottes (“durch das Reden in Sprachen”) auf Menschen kam, die nicht verbindliche Mitglieder des jüdischen Glaubens waren! Er und die anderen Anhänger waren ja Juden gewesen, doch dieser römische Hauptmann war ja bestenfalls Symapthisant.

Nun schien der Gott, der nach ihrem Verständnis ein Gott der Juden war, ein Gott für alle zu sein! Gott war nicht nur mit ihnen, sondern auch mit dem römischen Hauptmann und seinem Hausstand. Das verändert die Perspektive dann doch ein bisschen :). Ohne diesen Erkenntnisschritt hätte der christliche Glaube wohl kaum die globale Verbreitung von heute. Er wäre eine Sonderströmung innerhalb des jüdischen Glaubens geblieben.

Dient es dem Leben?

Das Interessante dabei ist: Dies geschah etwa zehn Jahre nach Tod und Auferstehung von Jesus die ja schon einmal feste Überzeugungen der Nachfolger Jesu völlig veränderte. Stell dir vor, du hast eine Erkenntnis die dein Leben völlig verändert. Du denkst, du hast nun den Durchblick, du weisst nun endlich worum es geht. Wie schnell passiert es, dass wir uns an dieser einen Erkenntnis festhalten und denken wir haben den Plan des Lebens verstanden. Bei den Nachfolgern von Jesus war das anders. Nur zehn Jahre nachdem ihr Leben durch das Leben von Jesus komplett auf den Kopf gestellt worden war, wurde ihr Weltverständnis schon wieder auf den Kopf gestellt. Die Jesus-Bewegung war in ihren Ursprüngen eine ziemlich progressive, reformorientierte Bewegung!

Durch die Zeiten hindurch wurde Kirche dann immer mehr als etwas bekannt, dass versuchte seine Lehre ja nicht zu verändern und es gibt viele Christen, die denken, wenn sie den christlichen Glauben verstanden haben, dass sie im Prinzip den Durchblick über alles Wesentliche haben. Dies steht in ziemlich krassem Widerspruch, zu den ersten Christen, die sich immer wieder neu überraschen liessen und offen waren, ihre Überzeugung zu korrigieren, wenn die Zeichen dafür überdeutlich war.

Dies bedeutete nicht, dass sie ihre Überzeugung, dass Jesus wegen und damit auch für ihre Schuld gestorben war und dass er auferstanden war korrigierten. Es bedeutet auch nicht, dass “konservativ” immer schlecht ist! Beileibe nicht! Die Frage ob ich mich in einer Sache “konservativ” oder “progressiv” verhalte ist die: Welchen Zweck hat meine Überzeugung? Auf welchem Weltbild und welchen Vorstellungen ist sie gegründet? Ich möchte Entscheidungen treffen, die dem Leben in all seinen unterschiedlichen Dimensionen dient und ich bin überzeugt, dass das auch Gottes Intention ist.

Egal ob wir uns dem christlichen Glauben verbunden fühlen oder nicht: Was sind die tiefgreifenden Überzeugungen die wir glauben und die wir vielleicht einmal auf den Prüfstand stellen müssen? Wenn es darum geht, einander näher zu kommen und auf eine gute Weise miteinander zu leben müssen wir manchmal einige Tabus antasten um den Mitmenschen wirklich verstehen zu können und ihn aus einer neuen Perspektive sehen zu können.

Eine kurze Geschichte des sozialen Zusammenlebens

In der modernen westlichen Welt sprechen wir oft davon, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben. Damit ist gemeint, dass wir in einer Welt leben, in der sowohl Menschen mit höchst unterschiedlichen Lebensentwürfen als auch mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Ansichten leben. Wenn du wie ich zur eher jüngeren Generation gehörst, wird dir diese Vielfalt ganz normal vorkommen. Die Möglichkeit unter Tausenden Berufen den passenden auswählen zu können ist genauso gewöhnlich, wie Menschen aus anderen Kulturkreisen auf der Straße zu begegnen. Und auch dass ich hier immer wieder von “meiner Meinung” oder “meiner Beobachtung” geschrieben habe, scheint uns sehr natürlich. Doch das war nicht immer so. Ich will mit diesem Artikel einen Überblick geben, durch welche Gedanken unser heutiges Verständnis sozialen Zusammenlebens geprägt ist. Dabei werden wir einige der Grundwerte, die unsere Gesellschaft ausmachen, neu wertschätzen können, doch auch entdecken, welche Schwächen unsere heutige Vorstellung gesellschaftlichen Zusammenlebens hat. Schnall dich an, denn wir zoomen jetzt etwa 500 Jahre zurück, in eine Zeit in der Menschen in vieler Hinsicht anders lebten als heute.

Uniformität in der vormodernen Zeit

Noch vor 500 Jahren war unsere Kultur weit weniger plural und indivdiuell als sie es heute ist. In vormoderner Zeit (also noch vor etwa 1750) war das mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben weit weniger komplex als heute. Grob gesagt bestimmte der Monarch welche Meinung die richtige war. „Der Staat bin ich“ sagte zum Beispiel der “Sonnenkönig” Ludwig XIV. , der über Frankreich von 1648 bis 1715 herrschte, ohne dass ihn irgendjemand kontrollierte. Den Bürgern kam es nicht in den Sinn irgend etwas zu hinterfragen, was der König sagte. Natürlich gab es auch schon damals Freidenker und Oppositionelle, doch diese lebten in der Regel in großer Gefahr. Ebenso kritisch war es in jener Zeit der Kirche zu widersprechen. Europa war im Wesentlichen eine Ständegesellschaft, in der man in einen Beruf hineingeboren wurde. Frauen waren sowieso nicht erwerbstätig, sondern für die Erziehung der Kinder zuständig. Der christliche Glaube römisch-katholischer Ausprägung war das vorherrschende Weltbild (Nur bis ins 16. Jahrhundert, danach war der protestantische Glaube nahezu gleich prominent vertreten). Und die Monarchie war das einzige politische Modell und der König eingesetzt aus Gottes Gnaden. Die Regeln waren einfach und simpel, doch bevorzugten sie die Oberschicht und unterdrückten die große Mehrheit der einfachen Bürger. Natürlich ist das alles sehr plakativ dargestellt und ich möchte hier auch nicht generalisieren. Es gab damals auch Ausnahmen von der Regel. Doch man kann mit Sicherheit davon sprechen, dass in der vormodernen Gesellschaft sowohl in Bezug auf den persönlichen Lebensentwurf als auch in der persönlichen Weltanschauung grosse Homogenität (Gleichförmigkeit) herrschte.

Das “Entweder-Oder” der Moderne

Allmählich setzte jedoch eine stärkere Pluralisierung in der Gesellschaft ein. In der Epoche, die die Moderne genannt wird (ca. 1750 – 1950) begann eine Zeit des Hinterfragens der vorherrschenden gesellschaftlichen Struktur. Die Zeit der Forscher brach an, die zunehmend althergebrachte Dogmas infrage stellten. Und die Philosophen der Aufklärung (Voltaire, Rousseau, Locke; wirkten schon vor der klassischen Moderne, doch beeinflussten sie nachhaltig) kritisierten die Aufteilung der Gesellschaft in Stände, die das Leben des Einzelnen stark festlegten. Durch die Französische Revolution wurde die Idee von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu einem massenweiten Gesellschaftsideal und einem Schreckgespenst für viele europäische Monarchen. Am Besten beschreibt vielleicht das von Hoffman von Fallersleben veröffentlichte Lied „Die Gedanken sind frei“ die Emanzipation der Meinungsbildung des einfachen Bürgers, der sich nicht mehr mit der Alternativlosigkeit der vormodernen Vorstellung von Gesellschaft begnügte. Die Moderne veränderte die Gesellschaft zur Freiheit des eigenständigen Denkens. Das war also ein erster Fortschritt in Richtung einer pluralen Gesellschaft. Doch noch waren zumindest im Bereich des Lebensstils viele konventionelle Bilder vorhanden (z.B. Geschlechterrollen). Und noch glaubte man an die eine große, zusammenhängende Theorie, die die Welt erklären würde. Der Sozialismus wie auch der Nationalismus entstanden als rivalisierende politische Bewegungen. Der erstere glaubte daran, dass das Übel der Welt in der Unterdrückung der Arbeiterschicht durch die Mächtigen lag und Freiheit durch die “Befreiung des Proletariats” von den Unterdrückern kommen würde. Der Nationalismus glaubte, dass das Übel der Welt dagegen in der Zersplitterung der Nation zu finden sei und die Einheit und der Einsatz für die Nation die oberste Priorität haben sollten. Nationalisten und Sozialisten bekämpften sich bis aufs Blut. Der Zweite Weltkrieg war auch ein ideologisch geführter Krieg nationalistischer Nationen (Deutschland, Italien) gegen sozialistische (Sowjetunion). Daher kann man sagen, dass die Moderne sehr stark von den Grabenkämpfen des “Entweder – oder” konkurriender Weltbilder geprägt war. Wo in der Vormoderne noch viele Menschen von der einen konkurrenzlosen absoluten Wahrheit überzeugt waren, war man nun in dem Konflikt dass es mehrere Überzeugungen gab, die den Anspruch hatten die Wahrheit abzubilden. Man hatte also erreicht, dass Meinungsaustausch und das Entstehen einer pluralen Gesellschaft erst möglich geworden waren, doch der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen war oft destruktiv – bis hin zum grausamen ideologischen Krieg.

Zusammengefasst waren Vormoderne und Moderne von folgenden Merkmalen geprägt.

VormoderneModerne
Universale Wahrheit weitgehend unhinterfragtEntstehende Pluralität durch konkurrierende Weltbilder und Gesellschaftsentwürfe
UniformitätVielfalt verschiedener Gruppen
Keine Diskussion um richtig oder falsch"Ich habe recht und du hast unrecht"

Individualität und Relativismus der Postmoderne

Nach dem zweiten Weltkrieg begann ganz schleichend eine neue Epoche, die Postmoderne, die von vielen als die gegenwärtige geistesgeschichtliche Epoche gesehen wird. Der Philosoph Jean-Francois Lyotard charakterisierte die Postmoderne als eine Ablehnung gegenüber den “großen zusammenhängenden Erzählungen”. Zwei Weltkriege erschütterten den Optimismus der Gesellschaft in eine verbindende und alles vereinende gesellschaftliche Theorie. Die Postmoderne bezweifelte dass es die eine überlegene Theorie für ein gelingendes Leben und Zusammenleben gab. Sie anerkannte dass das Leben viel zu komplex ist, um es in einer einfachen Erlösungstheorie für alle zusammen zu fassen. Stattdessen radikalisierte sie das Pluralisierungsprojekt der Moderne. Hatte die Moderne überhaupt erst die Möglichkeit einer alternativen Gesellschaft angestoßen, so wurde die Pluralität nun eine Angelegenheit jedes Einzelnen. War in der Moderne noch weithin ein konventioneller Lebensstil aufrecht erhalten worden, so entstand in der Postmoderne die Multi-Options-Gesellschaft, in der es nicht mehr den einen klassischen Lebensstil gab. „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ hieß es nun. Verschiedene Möglichkeiten in Bezug auf Berufswahl, Familienplanung und Ernährungsweisen waren möglich. Und der amerikanische Traum, ausgedrückt in der Redewendung “Vom Tellerwäscher zum Millionär” ist vielleicht ein gutes Beispiel dafür wie der Einzelne in der Postmoderne sein Glück in die eigenen Hände nahm. Welch ein Unterschied dagegen zur Ständegesellschaft früherer Zeiten! Doch auch die Weltanschauung und die daraus abgeleiteten Werte wurden nun eine Angelegenheit jedes Einzelnen. Das führte zu der vorherrschenden Meinung, dass die Erkenntnis des Einzelnen relativ ist. Meine Erfahrung und meine Ansichten sind für mich gültig, aber für dich vielleicht wieder ganz anders. Was für den einen richtig war, konnte für den Nächsten völlig falsch sein. In der Frage des Umgangs mit unterschiedlichen Meinungen und Ansichten war das ein Fortschritt zur Moderne: Hatte man in der Moderne noch hart um die Wahrheit gekämpft, so war nun die Meinung des anderen kein Grund zum Streiten. Wenn alles relativ und nicht absolut sicher ist, besteht ja kein Grund mehr für den man kämpfen muss. Der Pragmatismus der Postmoderne sagt einfach “Alles ist okay” (ja, das ist wieder sehr plakativ aber es hilft uns die Grundüberzeugungen unserer Welt zu verstehen). Somit besteht auf der Grundlage der postmodernen Theorie eine niederschwellige Basis gegenseitigen Respekts. „Lass mich in Ruhe, ich lasse dich auch in Ruhe.” Die zweite grosse Errungenschaft der Postmoderne (nach der Errungenschaft der friedlichen Koexistenz) aber ist die Freiheit des Individuums. Der Einzelne kann sich nun (idealerweise) ohne gesellschaftliche Konventionen frei entfalten und selbst verwirklichen.

Wir können nun unsere Tabelle mit einer Spalte für die Postmoderne erweitern:

VormoderneModernePostmoderne
Universale Wahrheit, weitgehend unhinterfragtEntstehende Pluralität durch konkurrierende Weltbilder und GesellschaftentwürfeIndividuelle Pluralität
UniformitätVielfalt verschiedener GruppenIndividuelle Vielfalt
Keine Diskussion um richtig oder falschIch habe recht und du hast Unrecht. Es gibt kein richtig oder falsch

Die Krise der Postmoderne

Wenn du bis hierher durchgehalten hast, herzlichen Glückwunsch. Nun sind wir wieder in unserer Zeit, im 21. Jahrhundert angekommen und können der Frage nachgehen, was die Gründe sein könnten, dass Streit und Spaltung gerade wieder so zunehmen. Wir leben also in einer Gesellschaft in der jeder versucht, seine Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen. Das geht von Beruf, über Familie bis hin zum Privatleben. Wir haben die Freiheit unter unzähligen Optionen zu wählen und wir haben akzeptiert das das bei jedem Menschen anders aussieht (jedenfalls haben wir es weitgehend akzeptiert, natürlich gibt es immer noch Beispiele von Diskriminierung und Ausgrenzung).

Wie kann es sein, dass diese Sicht des Zusammenlebens zu Spaltung und Streit führt?

Ich möchte es vorwegnehmen und dann genauer darauf eingehen: Uns fehlt eine Einstellung gegenseitiger Verbundenheit.

Schauen wir ein einfaches Beispiel an: Wenn ich in dem Supermarkt einkaufe, der die niedrigsten Preise hat, diese aber nur durch eine Unterbezahlung seiner Mitarbeiter erreichen kann, dann fördere ich die niedrig bezahlenden Arbeitgeber und trage Mitverantwortung zur Not der Angestellten. Hier kommt es also zum Konflikt weil die Interessen des anderen (guter Lohn) durch meine (niedrige Kosten) eingeschränkt werden. Das ist ein gutes und auch relativ bekanntes Phänomen, das uns die Verbundenheit aufzeigt, die ich oben erwähnt habe. Wir sind keine Gesellschaft isolierter Individuen, sondern eine Gesellschaft die untrennbar miteinander verbunden ist. Am deutlichsten wird es in den ökologischen Fragen, denn die Natur macht nicht Halt vor Grenzen des Einzelnen und nicht einmal Ländergrenzen können sie aufhalten.

Was man nun tun kann um diese Interessenskonflikte praktisch zu lösen, darum machen sich bereits viele Politiker und andere Menschen Gedanken. Mein Ziel ist es, zu zeigen wie sich unsere Einstellung und alltägliche Haltung ändern muss, wenn wir der Verbundenheit in die wir gestellt sind – ob es uns passt oder nicht – gerecht werden wollen.

Sozial orientierte Individualität

Die geschilderten Interessenskonflikte helfen uns eine neue Perspektive für das gesellschaftliche Zusammenleben einzunehmen. Ich möchte sie so formulieren:

Meine Bedürfnisse sind wichtig aber die der anderen auch. Und meine Sichtweise ist wichtig aber die der anderen ebenso.

Die Errungenschaft der Postmoderne ist die Befreiung des Individuums, die es wert ist beibehalten zu werden. Es wäre ein Rückschritt, wieder in eine Zeit der staatlichen Bevormundung zurück zu gehen, wie wir sie in der Vormoderne und zum Teil in der Moderne hatten. Leider gibt es heute eine zunehmende Menge an Leuten die sich eine “starke” Politik wünscht und damit wieder den Staat ihr Leben bestimmen lässt. Doch während wir die Wertschätzung des Individuums beibehalten, eignen wir uns eine Perspektive an, die die das Wertesystem des anderen anerkennt und wertschätzt. Diese Perspektive die sowohl sich selbst, als auch den anderen wertschätzt bezeichne ich als “sozial orientierte Individualität”. Vielleicht denkst Du jetzt: “Das ist aber anstrengend. Ich muss schon schauen wie ich überhaupt über die Runden komme und jetzt soll ich auch noch an den anderen denken.” Ich sage dir: “Dann denkst Du schon wieder nur aus deiner eigenen Perspektive!

Jetzt stell Dir stattdessen vor, du wirst bei wichtigen Entscheidungen am Arbeitsplatz, in der Familie oder unter Freunden immer gefragt: “Was denkst Du dabei?” oder “Was ist Dir wichtig?” Wie anstrengend wäre es in einer solchen Gruppe das Gleiche zu tun? Auf einmal muss ich nicht mehr ständig versuchen, mich durchzusetzen, weil Menschen mich und meine Bedürfnisse ernst nehmen. Die kritische Phase bei einer neuen Vision ist oft der Anfang. Es muss jemand beginnen, diese Vision zu leben. Dann wird es für die Nächsten schon einfacher, dasselbe zu tun. Einer muss immer anfangen. Und dieser Blog kann der Anfang sein, dass sich Gleichgesinnte finden!

Was heisst das für die Tabelle, die wir nach jeder geistesgeschichtlichen Episode aufgestellt haben?

Wo das Schlagwort der postmodernen Gesellschaft “Pluralität” sein könnte, wäre es nun eher “Partikularität”. Pluralismus geht von der Koexistenz vieler unterschiedlicher Meinungen und Lebensentwürfe nebeneinander aus. Doch diese müssen nicht notwendigerweise in Beziehung zueinander stehen. Das Leben ist bunt und vielfältig, doch die Verbundenheit der Individuen untereinander wird nicht berücksichtigt.

Partikularität indes beschreibt einen Teil in einem grossen Ganzen. In der neuen Perspektive ist jedes Teil (jede Person, jede Meinung, jedes Argument) enorm wichtig, weil das große Ganze nicht komplett ist, wenn nur ein einzelnes Teil fehlt! Doch zugleich ist jeder Teil abhängig und in Beziehung zu den anderen Teilen. Man könnte es auch mit den Zutaten für ein Gericht vergleichen: Ein Gericht hat viele unterschiedliche Gaben und dass macht das Gericht erst richtig gut! Eine Zutat allein macht noch kein Gericht, doch wenn auch nur eine Zutat fehlt, leidet bereits die Qualität des Gerichts. Auf die Gesellschaft betrachtet bedeutet das: Der Einzelne ist extrem wichtig doch unsere Bedeutung wird erst dann sichtbar, wenn wir erkennen, dass wir in Beziehung zueinander gestellt sind und einander benötigen. Das ist mit Partikularität gemeint.

Gibt es in dieser Sichtweise wieder richtig und falsch? Ein “Richtig und falsch” wie es das in der Moderne und davor betrachtet wurde, gibt es weiter nicht. Das würde bedeuten, dass es Menschen gibt die die Wahrheit vollständig erkannt haben und andere nicht. Doch man könnte sagen, dass “Richtig” dass ist was sichtbar wird, wenn alle Teile ihre Sichtweise einbringen. Eine umfassende, alles erklärende Gesellschaftstheorie kann nur eine sein, die jeden Einzelnen integriert und berücksichtigt. Die Begabungen, Erfahrungen und Sichtweisen jedes Einzelnen sind dann ein unverzichtbarer Teil eines Mosaiks die das abbilden, was wir “Wahrheit” nennen. Ich fasse also zusammen:

VormoderneModernePostmoderneEpoche X
Universale Wahrheit oft weitgehend unhinterfragtEntstehende Pluralität konkurrierender Weltbilder und GesellschaftsentwürfeIndividuelle PluralitätPartikularität
UniformitätVielfalt unterschiedlicher GruppenIndividuelle VielfaltVielfalt integriert in einem grossen Ganzen
Keine Diskussion um richtig oder falschIch habe recht und du hast unrechtEs gibt kein richtig oder falschIch brauche dich und du brauchst mich um richtig und falsch zu erkennnen.

Radikal ausgeglichen bemüht sich darum, Gutes zu bewahren und weniger Gutes zu reformieren. Der Blog setzt sich dafür ein, die Errungenschaften von Moderne und Postmoderne – Respektierung der Meinungsfreiheit und individueller Lebensgestaltung des Individuums (solange dieses die Rechte anderer Menschen nicht verletzt!) erhalten bleiben. Gleichzeitig tritt der Blog für eine grösseres Verständnis der Ergänzungsbedürftigkeit der Perspektive jedes Einzelnen ein. Wir wollen selbstbewusst aber empfindsam für die Perspektive des anderen in die Zukunft gehen.

Sechster Kernwert: Den Weg dorthin wertschätzen

Ein Professor der Mathematik schrieb Folgendes an die Tafel:

1×9 = 9

2×9 = 18

3×9 = 27

4×9 = 36

5×9 = 45

6×9 = 54

7×9 = 63

8×9 = 72

9×9 = 81

10×9 = 91

Erst erscholl leises Gekicher, dann lachten viele der Student*innen los, weil der Professor sich offensichtlich verrechnet hatte.

10×9 = 91!

Irgendwann lachte der ganze Raum.

Der Professor wartete, bis Alle wieder still waren. Dann sagte er:

“Ich habe diesen Fehler absichtlich gemacht, um ihnen etwas zu demonstrieren. Ich habe neun Aufgaben richtig gelöst, und nur einen Fehler gemacht. Statt mir zu gratulieren, dass ich neun von zehn Aufgaben richtig gelöst habe, haben sie über meinen einen Fehler gelacht. Und damit zeigen sie sehr deutlich, wie unser Bildungssystem funktioniert. Und das ist sehr traurig, aber leider wahr. Wir leben eine Fehlerkultur, die dazu führt, dass Menschen verletzt und teils sogar gedemütigt werden, nur, weil sie sich mal irren. Wir müssen lernen, Menschen für ihre Erfolge zu loben, und auch, sie für ihre kleinen Fehler zu schätzen. Glauben sie mir, die meisten Menschen machen viel mehr richtig, als falsch. Und dennoch werden sie nach den wenigen Fehlern beurteilt, die sie machen. Ich möchte ihnen damit nahe legen, dass es gut ist, mehr zu loben, und weniger zu kritisieren. Daraus resultiert nämlich noch so viel mehr. Mehr Zuneigung, mehr liebevolles Miteinander, und weniger Gehässigkeit. In diesem Sinne, kommen sie gut nach Hause.”

Damit nahm er seine Unterlagen und verließ den Saal. Es blieb noch lange recht still nach diesen Worten. Die meisten Studentinnen nickten und sprachen leise über das eben Gehörte. Und nicht wenige von Ihnen haben verstanden, dass die Lektion, die sie gerade gelernt haben, viel wichtiger war, als das Ergebnis von 10×9.[1]

Diese kurze Geschichte soll einen sechsten und letzten Kernwert von „Radikal ausgeglichen“ einleiten, der  mit etwas Abstand und in einer Zeit in der ich mich oft schwach gefühlt habe, entstanden ist.

Es ist für viele in unserer heutigen Gesellschaft zu einem Lebensgefühl geworden, dass das Leben immer besser werden muss, die Entwicklung immer weiter gehen muss und die aktuelle Situation nicht gut ist. Während Fortschritt und Weiterentwicklung in der Moderne und auch in weiten Teilen der Postmoderne noch der letzte Schrei waren und einen sehr positiven Klang hatten klingt sie in den Ohren manches müden Bürgers (respektive mancher müden Bürgerin) wie ein nerviger Imperativ, der ihn/sie mit wütend voranpeitscht.

Wir leben in einer „Verbesserungskultur“ die den Fortschritt zu einem Ziel in sich erhoben hat. So fällt ihr wie in der oberen Geschichte mehr der eine Fehler auf als die vielen richtigen Antworten.

Wir sind so sehr geübt darin auf das fertige Bild zu blicken statt auf die Entwicklung und die Schritte die dorthin geführt haben.

 Was ist dein fertiges Bild?  Eine gerechte Gesellschaft? Eine versöhnte Gesellschaft? Eine Erde mit der ökologisch und nachhaltig umgegangen wird? Eine Familie? Ein bestimmtes Karriereziel?

Doch die spannendere Frage ist: Was machen wir wenn wir das Bild nicht so einfach in die Realität umsetzen können?

Wie gehen wir mit uns selbst um wie gehen wir mit anderen Menschen um?

Im oberen Beispiel wird über den Lehrer gelacht. Eine Menge anderer heftiger Reaktionen kann auch beobachtet werden. Sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere.

Was passiert wenn wir nicht mehr nur auf das fertige Bild schauen sondern auch auf den Weg der zu dem Ziel hinführt?  Wertschätzen wir nicht nur den einen sichtbaren Schritt, sondern auch den Weg dorthin?  

Radikal ausgeglichen verachtet nicht konkrete Ziele und messbare Resultate. Doch es macht sich den Weg dorthin angenehmer indem es den Weg wertschätzt auf dem Menschen eine Entwicklung machen, wenn sie trotz fehlender Resultate trotzdem an eine bessere Welt glauben und dabei gleichzeitig geduldig mit sich und ihren Mitmenschen umgehen. Dann behalten sie das Ziel im Auge und verachten trotzdem nicht den Weg. Sind sachorientiert und zugleich nah am Menschen. Klingt das irgendwie radikal ausgeglichen zwischen zwei Extremen? Dann hat der Blog wieder einmal sein Ziel erfüllt, zwischen Bewahrendem und Neuem zu vermitteln.


[1] Quelle: fb-Seite „Talking Heads“, 14. Juli

Als Jesus nicht politisch korrekt war

Es ist in diesem Blogbeitrag an der Zeit etwas mehr von mir zu verraten. Der Bezug auf Jesus in der Überschrift kommt nicht von ungefähr. Ich betrachte mich als „Christen“. Das ist nicht einfach so, weil ich in der christlich-abendländischen Kultur aufgewachsen bin. Mein Bezug zum christlichen Glauben ist wesentlich stärker. Der christliche Glaube ist vielmehr meine Lebensmitte. Ich verdiene sogar meine Brötchen (und für einiges mehr reicht es auch noch 🙂 ) in einem kirchlichen Kontext.

Warum sind dann grosse Teile meines Blogs ohne christlichen Bezug geschrieben?

Der Grund dafür ist, dass ich nicht nur einem Publikum schreiben möchte, dass ebenfalls in der christlichen Kultur beheimatet ist. Es ist mir ein Anliegen, dass sich jeder in dem was ich schreibe wiederfinden kann.

Christliche Kultur neigt heute leider manchmal zur Ghettoisierung, es gibt eine Menge an Begriffen, die nur von eingefleischten Christen verstanden werden und natürlich vermittelt der christliche Glaube auch ein gewisses Weltbild, mit dem sich Menschen unterschiedlich stark verbunden fühlen. Trotzdem hat sich für mich immer wieder die Frage gestellt: Soll ich in diesem Blog auch christliche Bilder einfliessen lassen, wo ich nicht verleugnen kann, dass ich durch den christlichen Glauben stark geprägt bin? Ich habe mich dazu entschieden zumindest einige Beiträge zu schreiben, in denen mein christlicher Hintergrund sichtbar wird. Gerade weil viele meiner Abonnenten auch Christen sind.

Doch das wird vereinzelt der Fall sein. Die meisten Beiträge werden ohne christlichen Bezug geschrieben sein.

Dieser Artikel wird – wie man an der Überschrift unschwer erkennen kann – ein Beitrag sein, der ein einen christlichen Impuls zu einer Thematik aufnimmt. Und zwar zu Kernwert 5 von „Radikal ausgeglichen“. Hier kannst du meine Gedanken zu dieser Thematik finden.

Als eine Person ohne christlichen Bezug kannst Du nun also entweder aussteigen, oder dich inspirieren lassen, was  die Bibel, das zentrale Buch aller Christen zu diesem Thema zu sagen hat.

Spagat zwischen zwei Kulturen

Nun muss ich sagen, dass es mir fern liegt, die Person Jesus, die vor 2000 Jahren im heutigen Israel gelebt hat, für eine aktuelle politische Debatte zu instrumentalisieren. Jesus lebte in einer Zeit in der Kampfbegriffe wie „Politische Korrektheit“, „Wutbürger“ oder sonstige „nette“ Ausdrücke nicht existierten. Darum glaube ich, dass es verkehrt wäre, nun zu versuchen, zu bestimmen auf welcher Seite Jesus denn in den Debatten dieser Zeit zu finden wäre. Dazu kommt, dass die biblischen Erzählungen über ihn, durchaus den Anschein wecken, dass er die Menschen seiner Zeit auch dadurch verwirrte, dass er sich keiner der politischen Interessensgruppen zuordnen liess.

Was hat mich also dann bewegt, Jesus mit einem modernen Begriff in Verbindung zu bringen, noch dazu mit einem so kontroversen?

Es geht mir darum, mich von biblischen Geschichten inspirieren zu lassen. Geschichten helfen uns manchmal, etwas auszudrücken, das man mit blossen Argumenten nicht so treffend darstellen kann.

Um eine solche Geschichte soll es im Folgenden gehen. Eine Geschichte, in der Jesus nicht „politisch korrekt“ gehandelt hat. Eine Geschichte in der Jesus die ethischen Standards seiner Zeit und die Gefühle einiger Leute verletzt haben mag. Allerdings mit einer bestimmten Intention, die dich vielleicht zum Staunen bringen wird.

Es ist die Geschichte in der Jesus, dem Zöllner Zachäus begegnet (wer eine Bibel zuhause hat findet sie in dem Buch Lukas Kapitel 19 gleich am Anfang).

Von Kollaborateuren und moralischen Unmöglichkeiten

Dort wird geschildert wie Jesus durch die heute noch existierende Stadt Jericho zieht. Eine riesige Menschenmenge begleitet ihn, will ihm nahe sein, seine Aufmerksamkeit gewinnen. Auf die heutige Situation übertragen könnte man sich einen Prominenten vorstellen, der durch eine Stadt läuft. Wenn es eine wirklich sehr bekannte Person ist, würde sich schnell eine grosse Menschenmenge sammeln und ihr hinterher rennen. Jesus hat schon zu seinen Lebzeiten ebenso viele Menschen angezogen. Trotzdem zieht Jesus aus Jericho heraus, er plant offensichtlich nicht in der Stadt zu bleiben und hat wahrscheinlich auch  Einladungen ausgeschlagen, die Nacht in der Stadt zu bleiben.

Da kommt der Menschenzug  an einem niedrigen Baum vorbei. Das Verrückte ist, dass auf diesem Baum ein erwachsener Mann sitzt. Es ist der Zöllner Zachäus. Ein Zöllner war in dieser Zeit kein Grenzbeamter, wie wir das heute kennen. Zöllner waren vielmehr die Steuereintreiber von damals. Das ist heute kein Beruf der einen besonders guten Ruf geniesst und das war damals nicht anders.

Was die ganze Sache aber noch schlimmer machte: Israel gehörte politisch in dieser Zeit zum römischen Weltreich. Die Römer hatten Israel erobert und verwalteten es als Provinz . Dabei ist die  Beziehung zwischen Besetzten und Besetzern aus verständlichen Gründen keine besonders Gute. Wenn wir  in den modernen Begriffen von heute sprechen wollen, waren die Römer die Unterdrücker, die Israeliten dagegen die Unterdrückten, die oft ungestraft diskriminiert werden konnten. Für diese verhassten Unterdrücker trieb Zachäus Steuern von seinen israelitischen Mitbürgern ein. Dabei wird erwähnt, dass Zachäus einen hohen Rang als Beamter hatte und reich geworden war. Ob er beim Einzug der Steuern auch Geld unterschlagen und für sich behalten hatte? Wenn jemand reicher ist als er sein sollte und das offen bekannt war, konnte man sich zumindest seine Gedanken dazu machen! Für Sympathiepunkte unter den jüdischen Bürgern hatte er also den falschen Beruf, den falschen Arbeitgeber und wohl auch die falsche Motivation.

Was macht ein so reicher Beamter auf einem solchen Baum? Der Text erzählt uns, dass Zachäus an Jesus interessiert war und wusste, dass er hier vorbeikommen würde. Doch wenn einer so einen schlechten Ruf hat wie Zachäus, dann wird er sich kaum unters Volk mischen. Viel zu gefährlich!

Also klettert er lieber auf einen Baum etwas abseits der Stadt. Doch leider ist die Menschenmenge immer noch bei Jesus und Zachäus wird gesehen. Es muss eine sehr peinliche Situation sein. Der unbeliebte und stadtweit bekannte Oberzöllner Zachäus sitzt auf einem Baum und gafft verschämt von dort herunter. Wer ihn entdeckte geht aus dem Text nicht hervor, doch was Jesus tut ist bemerkenswert.

Er bleibt stehen und bittet Zachäus vom Baum herunterzusteigen, weil er an diesem Abend bei ihm zu Gast sein möchte!

Das ist die Stelle an der vielleicht klar wird, warum Jesus in dieser Situation nicht “politisch korrekt” war. Zuerst schlägt Jesus die Möglichkeit in Jericho einzukehren aus. Es ist durchaus anzunehmen, dass ihn viele gerne bei sich zu Gast gehabt hätten. Doch dann kehrt er bei einem ein, der wie kein Zweiter für die Unterdrückung des jüdischen Volkes steht. Autsch! Wie zu erwarten erzählt der Text, dass ein „grosses Murren“ unter dem Volk entstand. Man wird sich vielleicht gefragt haben, welche Loyalitäten  Jesus hatte. War er vielleicht ein verkappter Sympathisant der Römer? Hatte er nicht im Blick, wie zynisch und verletzend das für diejenigen sein musste, denen er noch ihr letztes Erspartes aus der Tasche gezogen hatte? Politisch korrekt war das in keinem Fall.

Die Geschichte geht noch weiter. Sie erzählt, dass Jesus tatsächlich bei Zachäus zu Gast war. Zachäus gab schliesslich in diesem Rahmen ein bemerkenswertes Statement ab: Er wolle die Hälfte seines Besitzes den Armen geben und allen die er um Geld betrogen haben, vierfach zurückerstatten.

Einfach nur Propaganda um seinen Ruf zu polieren? Zumindest nicht aus der Sicht von Jesus, der im Anschluss sagt, dass in Zachäus’ Haus Gutes geschehen sei.

Man darf bei der Geschichte eines nicht aus den Augen verlieren. Jesus ruinierte an diesem Tag seinen guten Ruf um einen Menschen zu ehren, der es nach der Ansicht der Menschen nicht verdient hatte. Und Zachäus wusste das auch. Er wusste, dass er nun in seiner Schuld stand. Er konnte weitermachen wie bisher, aber dann würde er Jesus wohl nie wieder vor die Augen treten können, denn dieser hatte seinetwegen seinen Ruf ruiniert. Oder er könnte reagieren auf diese grosszügige und unerwartete Zuneigung die ihm entgegengebracht wurde. Zachäus entschied sich für das Letztere.

Menschen wertzuschätzen durchbricht soziale Isolation

Das Ziel von „Radikal ausgeglichen“ ist es auf einer Basis des „Miteinanders“ unterwegs zu sein, die von einer grundlegenden Wertschätzung für alle geprägt ist.  Menschenwürde ist ein Wert der in den Menschenrechtskonventionen allen Menschen zugeschrieben wird. Wir sind mühsam dabei zu lernen, dass dieser Wert Menschen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, ihrer Herkunft und ihres Status zugeschrieben wird. Jesus schliesst sich dieser Meinung an, wenn er in vielen Geschichten auch Nicht-Israeliten, Frauen (die in einer patriarchalen Gesellschaft diskriminiert wurden) und Armen mit Hinwendung und Barmherzigkeit begegnet (vor der Geschichte mit Zachäus heilt Jesus einen Bettler von seiner Blindheit!)

Doch hier geht Jesus noch über das sozial Erträgliche hinaus. Er begegnet nicht nur dem Unterdrückten mit Barmherzigkeit sondern auch dem der in den Augen der anderen der Unterdrücker war! Das geht Vielen am guten Geschmack vorbei, ist nicht „politisch korrekt“. Und doch war es so wichtig, weil Zachäus sich wohl selbst als einen “Unterdrückten” sah, als jemandem dem soziale Nähe und Anerkennung verweigert wurde. Jesus ist gerade nicht „politisch korrekt“ um den Panzer der Isolation der sich um diesen Mann gebildet hatte aufzubrechen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Vision in der alle Menschen Platz finden können. Welche Antwort haben wir sonst gegen Spaltung in der Gesellschaft?

In vielen Fällen ist eine Integration von Menschen die wichtige Regeln oder auch nur Erwartungen menschlichen Zusammenlebens übertreten schlicht unmöglich. Es würde Geschädigte verhöhnen und von einer grotesken Unachtsamkeit zeugen. Doch diese Geschichte zeigt, wie wichtig es ist soziale Isolation immer wieder zu durchbrechen und Menschen mit einer Würde zu begegnen die unabhängig davon gilt, welche Rolle sie in der Gesellschaft einnehmen.

 Um ehrlich zu sein: Das ist auch für mich ein Weg in dem ich noch nach der „radikalen Ausgeglichenheit“ suche. Doch gerade darum inspiriert mich diese Geschichte immer wieder. Weil sie einen Weg aufzeigt, nach dem ich mich ausstrecken will. Und gerade deswegen bin ich gerne Christ, also einer der sich auf den Spuren von Jesus bewegt.

Die Kunst des Miteinander-Redens: Eine Buchvorstellung zum Thema

Eine der wichtigsten Bedingungen für einen gelungenen Blog ist, dass er relevant ist. Was bringt es schon über ein Thema zu schreiben, dass nur ein paar Freaks und Experten wirklich beschäftigt? Woran erkennt man, dass ein Thema relevant ist?

Wenn es in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

Umso mehr hat es mich gefreut, als ich in einem Internetartikel auf die Neuveröffentlichung eines Buchs mit dem Titel „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ gestossen bin. Es ist das Werk des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen und des Kommunikationsexperten Friedemann Schulz von Thun und ist Anfang des Jahres 2020 erschienen. Erstmals haben sich also zwei Experten mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Miteinanders in den letzten Jahren intensiver beschäftigt.  Sie kommen zu einer ähnlichen Analyse wie ich: Der Ton wird rauer, extreme Ansichten salonfähiger und die Toleranz vor anderen Meinungen nimmt infolgedessen ab.

Woher ich das weiss? Weil ich zügig in die nächste Buchhandlung gegangen bin und mir das Buch gekauft und anschliessend gelesen habe.

Und es hat meine Erwartungen nicht enttäuscht (sonst würde ich es hier auch nicht empfehlen :)). Und so habe ich beschlossen, das Buch hier für Dich vorzustellen.  Ich werde also kurz darstellen, was Du von dem Buch erwarten kannst und welche Themen in ihm behandelt werden. Dabei werde ich nicht ins Detail gehen. Es wird also keinen Spoiler-Alarm geben!

Auf einzelne Konzepte der Autoren werde ich vielleicht in späteren Artikeln näher eingehen. Doch an dieser Stelle möchte ich Dich ermutigen, dir das Buch selber zuzulegen, wenn Dich das, was ich gleich vorstellen werde, neugierig macht.

Für wen also ist dieses Buch geeignet und was darf ich erwarten?

  1. Es ist ein Buch für alle, die dem „kommunikativen Klimawandel“ wie es die Autoren formulieren, entgegen wirken möchten. Wie verhalte ich mich in einer kontroversen Debatte möglichst deeskalierend? Wo sind die Grenzen für die Fortführung einer Debatte gegeben? Wie kann ich Empathie und Wertschätzung mit der Bereitschaft zum Streit und zur Konfrontation verbinden? Dabei werden Pörksen und Schulz von Thun nicht müde zu betonen, dass es keine ultimative Problemlösungsstrategie gibt. Wer also auf immer gültige Strategien und Rezepte hofft, wird enttäuscht. Vielmehr leitet das Buch zu einem bestimmten Lebensstil an.
  1. Weniger als dieser Blog hier diskutieren die Autoren, welches Menschen- und Gesellschaftsbild für ein gelungenes Zusammenleben hilfreich sein kann. Dieses Buch liefert keine Grundsatzdebatte über soziologische und anthropologische Konzepte. Vielmehr geht es um konkrete Situationen der Gesprächsführung. Dabei bedient vor allem Schulz von Thun immer wieder Konzepte aus Beziehungsdynamiken, die im Dialog entstehen können. Das Buch hat Potential zum Volltreffer zu werden, wenn du anwendungsorientierte Literatur suchst und wenn du vielleicht in einem Umfeld tätig bist in dem regelmässig Debatten und Diskussionen geführt werden.
  1. Das Buch ist auch für den Nachbar von nebenan einfach und verständlich geschrieben. Mit Ausnahme von Anfang und Schluss ist das Buch in dialogischer Form aufgebaut, in der Pörksen die moderierende Position einnimmt und Schulz von Thun dann zu seiner Meinung fragt. Anschliessend äussert sich aber auch Pörksen zu der Thematik und beide umkreisen ein Themenfeld für eine Weile, ehe sie zu einer neuen Frage weitergehen. Dabei werden viele Beispiele aus dem praktischen Leben aufgegriffen, die auch dem Laien immer wieder helfen, Zusammenhänge zu verstehen. Auch humoristische Anekdoten kommen nicht zu kurz, wodurch das Lesen insgesamt sehr angenehm wird. Um das Buch schneller thematisch zu durchdringen ist es aber sicher hilfreich, sich mit der Thematik gedanklich bereits etwas auseinandergesetzt zu haben. Dann stellen sich auch die positiven „Aha-Effekte“ ein, wenn sich für eine Frage wo man schon lange nach einer Lösung suchte, auf einmal Handlungsoptionen auftun.

Und welche Themen werden in dem Buch behandelt?

Im Vorwort beschreibt Bernhard Pörksen den „kommunikativen Klimawandel“ der vor sich geht. Nie zuvor konnte die Meinung des Einzelnen so öffentlich mitgeteilt werden, wie in der Zeit der Digitalisierung. Die Digitalisierung treibt die Meinungsbildung voran, insofern Journalistinnen und Journalisten nicht mehr allein entscheiden, was relevant, interessant und wichtig ist. Sie verlieren zunehmend an Deutungsmacht, je mehr das Internet jeder Privatperson die Möglichkeit gibt, ihre Meinung kundzutun. Die Kehrseite dieser Demokratisierung der Meinungsbildung ist, dass extreme Meinungen und beleidigende Kommentare weitgehend ungeahndet ins Rampenlicht geraten können. Das sorgt für einen „kommunikativen Klimawandel“. Was die einen als das Ende der „politischen Korrektheit“ feiern, beklagen die anderen als eine zunehmende Eskalation von “Hass und  Hetze”.

Das erklärt warum ein „kommunikativer Klimawandel“ stattfindet, doch es steht die Frage im Raum wie man damit umzugehen ist. Noch im selben Kapitel geht Pörksen auf die Grundintention des Buches ein: Diese besteht darin, dem anderen wenigstens mit einem „Minimum an Wertschätzung zu begegnen, wenn man mit ihm sprechen will“. Das erste Ziel des Miteinander-Redens soll nicht in der Überzeugung des anderen von meiner Sicht der Dinge liegen, sondern im Versuch den anderen zu verstehen und ihn in seiner Andersartigkeit zu erkennen. Es geht also sehr grundsätzlich um eine Änderung in der Haltung gegenüber dem Anderen. In dieser zentralen These gehe ich mit den Autoren mit, ich beschreibe diese Haltung genauer in dem Artikel zu meinem vierten Kernwert.

Ab dem ersten Kapitel wird das Thema in der dialogischen Form zwischen Pörksen und Schulz von Thun fortgeführt. Im zweiten Kapitel geht es darum, wie Polarisierungsdynamiken entstehen – das wird anhand von plastischen Beispielen im privaten Bereich und in der gesellschaftlichen Debatte erörtert. Hier wird auch das Konzept des Wertequadrats näher vorgestellt, das meiner Meinung nach ein sehr wirksames Mittel darstellt, wie man selbst in harten Diskussionen einen guten Grundgedanken in der Position des Gegenübers finden kann (oder im negativen Fall die gute Grundgesinnung des anderen vollkommen abwertet). Aber jetzt hörst du vielleicht schon die Sirene des Spoiler-Alarms, darum schnell zum zweiten Kapitel!

Dort geht es dann richtig zur Sache! Hier geht es um Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs. Beide Autoren sind sehr vorsichtig, Dialog als das Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Kontroversen zu sehen. Sie gehen darauf ein, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit man überhaupt einen Dialog führen kann, der mit der echten Möglichkeit einer Verständigung enden kann. Auch gehen sie darauf ein, dass der Dialog im privaten und im öffentlichen Bereich unterschiedlich angemessen sein kann, weil man sich im öffentlichen Bereich klar werden muss, dass jede Handlung und Äusserung von der Öffentlichkeit bewertet wird. Im öffentlichen Diskurs muss sich jeder darüber klar werden, welche Nebeneffekte sein Handeln auf Dritte haben kann. Zuletzt geht es um die wichtige Frage wie man die richtige Mischung aus Annäherung und Ablehnung erreicht. Auch hier wird wieder anhand plastischer Beispiele sehr schön formuliert.

Das dritte Kapitel behandelt dann Themen, die nicht so sehr im Mittelpunkt meines Blogs stehen. Hier geht es darum, wie durch die fortschreitende Digitalisierung und Sichtbarkeit von öffentlichen Personen mehr Material entsteht, das genutzt werden kann um Personen zu diskreditieren. Das Kapitel kann vor allem für Personen die viel in der Öffentlichkeit stehen, interessant sein. Da jeder von uns irgendwann Fehler macht, wird es zunehmend wichtig wie wir mit den eigenen Fehlern umgehen und sie transparent und angemessen kommunizieren können. Denn sonst bestimmt die öffentliche Meinung den öffentlich gemachten Skandal.

Im vierten und letzten Kapitel geht es um Desinformation und Manipulation, die durch die Digitalisierung entstehen. Extremereignisse wie Terroranschläge laden auf den sozialen Medien geradezu zu Falschmeldungen oder zumindest verzerrter Information ein, wenn sie schnell und ohne nähere Reflexion mitgeteilt werden. Wie kann man eine Berichterstattung leisten, die dem Drang des Bürgers nach schneller Aufklärung entgegen kommt ohne dabei voreilig zu sein und sich dem Vorwurf tendenziöser Berichterstattung ausgesetzt zu sehen?  Dieses Kapitel ist besonders interessant für Menschen die selbst Informationskanäle bedienen, sowohl Berufsjournalisten als auch  fleissigen Nutzern eines Twitter-Accounts.

Insgesamt gehen Pörksen und Schulz von Thun sehr umsichtig und bedacht an die Thematik, umkreisen sie von verschiedenen Seiten, doch immer wenn man den Eindruck hat, dass sich die Thematik durch eine weitere Schlaufe verliert, kommen sie auch wieder zu ihrer Grundhaltung zurück. Miteinander-Reden ist eine Interaktion,  weshalb es so wichtig ist, den anderen nicht einfach als einen Gegner oder potentielles Überzeugungsobjekt zu sehen, sondern in dem Gespräch mit dem anderen  ein Beziehungsgeschehen zu erkennen in dem im optimalen Fall ein Austausch stattfindet und ich Einblick in eine neue Perspektive auf ein Thema bekomme.

Ich war dankbar dieses Buch gefunden zu haben, dass die Aktualität der Entwicklung aufnimmt. Auch wenn ich den beiden Autoren nie begegnet bin, gibt es doch das Gefühl Mitstreiter auf der eigenen Mission zu haben. Womit wir wieder beim Anfang wären: Der Relevanz des Themas.

Dass unsere Gesellschaft sich gerade in einer Phase des Umbruchs befindet ist spürbar und erkennbar. Eine wichtige Frage aber ist, wie dieser Umbruch sich gestaltet. Wird er mehr durch Konfrontation oder mehr durch Kooperation geprägt sein?

Es ist die Zeit, in der die Verbinder- und Versöhnerpersönlichkeiten erkennen müssen, wie relevant ihre Gabe ist. Steht auf, bringt euch ein und helft mit, dass dieser Umbruch nicht zu einem Kampf zwischen den Hütern der alten Ordnung und den Befürwortern einer Neuen ausartet.

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Vom Umgang mit der Angst

Seit ein paar Wochen hat Corona nun unser Leben und unsere Berichterstattung voll im Griff. Wenn man durch die Fernsehsender zappt oder die Internetnachrichtendienste durchstöbert findet man fast kein anderes Thema mehr. Und oft sind die Nachrichten besorgniserregend. Wie lange werden wir wohl noch in diesem Zustand der sozialen Isolation leben müssen? Was wird sein, wenn die Krise vorbei ist? Kommt dann die Wirtschaftskrise? Und wenn du zur Gruppe besonders gefährdeter Menschen gehörst, wist du vielleicht alarmiert auf die ersten Anzeichen einer Erkrankung reagieren.

Was in diesen Tagen immer wieder hinter den alltäglichen Diskussionen und Gesprächen herauszuspüren ist, ist ein bestimmtes Gefühl:   

Angst.

Es  ist viel darüber geredet worden, wie wir mit der Pandemie umzugehen haben, doch es ist wenig darüber gesprochen worden wie ein guter Umgang mit Angst und Sorgen auszusehen hat. Darum soll es in diesem Blogartikel gehen. Das hat zwar auf den ersten Blick wenig mit den Themenfeldern zu tun die ich sonst so hier behandle, aber es scheint mit im Moment ein so wichtiges Thema zu sein, dass ich dazu einen kurzen Exkurs geben möchte. Immerhin kann man sagen, dass Angst eine starke Kraft ist um eine Gesellschaft zu spalten, womit das Thema vielleicht doch noch einen Bezug zu den eigentlichen Themen dieses Blogs zieht.

Angst äußert sich in Gefühlen

Wie also äußert sich Angst? Wie entsteht sie? Und wie kann man damit umgehen?

Zunächst einmal macht sich Angst durch körperliche Reaktionen bemerkbar. Herzklopfen, erhöhter Puls, Anspannung der Muskeln, ein flaues Gefühl in der Magengegend, Schweißausbrüche und die Unfähigkeit einen klaren Gedanken denken zu können, können Merkmale sein.

Es ist also festzuhalten, dass es zunächst so etwas wie ein Gefühl der Angst gibt. Dieses Gefühl wird durch unsere Körperreaktionen ausgelöst und von uns als negativ empfunden. Ich kann nicht unmittelbar verhindern, dass dieses Gefühl kommt, weil es durch Selbstreaktionen meines Körpers gesteuert wird.

Vier wichtige Punkte im Umgang mit Angst

Damit bin ich auch schon bei meinem ersten Punkt, wie ich mit Angst umgehen kann.

  1. Anerkennen

Ich erkenne an, dass ich Angstgefühle habe. Das tun wir gar nicht so oft. Beobachte einmal wie oft du versuchst, deine Gefühle herunterzuspielen.

 „Ach, ich habe gar keine Angst“ oder „Nein, ich fühle mich gut?“, hört man manchmal nach Situationen die eigentlich zum Fürchten sind.

Meine Gefühle nicht ernst zu nehmen, klingt zwar auf den ersten Moment sehr stark, ist aber erwiesenermaßen kein guter Umgang mit meiner Angst. Denn die Körperreaktionen sind eigentlich Warnleuchten, die uns vor einer Bedrohung schützen wollen.

Stell dir vor, du läufst über eine Straße und siehst ein Auto heranfahren. Der Fahrer sieht dich nicht und du solltest anhalten. Wenn dir dein Körper nicht signalisiert, dass Gefahr im Verzug ist, kann man deine Körperteile danach vielleicht einzeln von der Straße klauben.

Dazu kommt, dass unterdrückte oder ignorierte Gefühle sozusagen „im Körper bleiben.“ Das wiederum kann langfristige körperliche Beschwerden auslösen. Ein dauerhaft hoher Blutdruck zum Beispiel erhöht das Risiko für viele Krankheiten

Darum ist es wichtig Angstgefühle nicht zu verdrängen oder zu unterdrücken, sondern  anzuerkennen, dass sie real sind und zuzulassen. Dass sie real sind heißt allerdings noch nicht, dass sie logisch sind. Gefühle sind selten logisch. Und damit sind wir schon beim zweiten Punkt.

  1. Ursache erkennen

Angst ist oft nicht logisch. Bei Angststörungen ist das am deutlichsten. Aber sind wir mal ehrlich: Wer von uns hat den Angstgefühlen die ich oben erwähnt habe, nicht schon einmal ein Haus gebaut? So wird aus Angstgefühlen eine „anerlernte“ Angst und daraus schließlich Sorge. Ein permanenter Zustand indem wir Angst haben vor Ablehnung, Einsamkeit, Schmerzen, konkreten Dingen – und wenn wir dann auf unser Leben schauen sehen wir dass diese Angst gar nicht begründet ist. Wir haben Angst vor Ablehnung, doch niemand lehnt uns ab. Wir haben Angst vor dem Jobverlust, doch es besteht gar kein Anzeichen, dass dieses Gefühl begründet (im Moment ist diese Angst für manch einen wirklich begründet!)

Die Ursache zu erkennen, kann mir helfen, weniger Angst zu haben, wenn ich erkenne dass meine Angst unbegründet ist und die Gefahr für mein Leben relativ gering ist.

Zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit an dem neuartigen Coronavirus zu sterben, wenn du unter 40 Jahren bist selbst bei den sich ständig ändernden Zahlen durchweg unter 0,5 %! Das ist so als ob du mit 199 anderen Menschen im Raum bist und der Zufallsgenerator zufällig eine Person auswählt. Da fühle ich mich einigermassen sicher…

 Allerdings ist die Angst auch wenn ich sie als unbegründet erkenne zunächst noch real. Auch wenn ich mich gedanklich von meiner Angst distanziere, weil ich sie als unbegründet wahrnehme, wird es eine Weile dauern bis ich das auch so fühle. Das Gute ist, dass sich deine Gefühle deinen Entscheidungen anpassen, allerdings langsam und mit der Möglichkeit durch eine konkrete Situation wieder mit Angst beladen zu werden. So sind unsere Gefühle halt.

Doch dann gibt es auch Ängste, die begründet sind. Es gibt reale Gefahren die uns bedrohen und wir können ihnen nicht entgehen. Was ist, wenn ich eine Krebsdiagnose mit einer schlechten Diagnose bekomme? Wie soll ich mit dem Verlust eines mir nahe stehenden Menschen umgehe? Ich bin arbeitslos geworden und weiß, dass meine Aussichten auf eine Wiedereinstellung wegen fortgeschrittenem Alter schlecht sind? Wie soll ich damit umgehen? Hier möchte ich zu meinem dritten Punkt kommen.

  1. Ein tragfähiges Lebensfundament suchen

Ich hatte in meinem Leben immer wieder das Privileg in  Senioreneinrichtungen  hineinschnuppern zu dürfen. In den Gesprächen mit den Leuten dort, wird dir bewusst, wie wichtig die Frage nach einem Sinn im Leben ist. Die meisten von uns haben ein inneres Bild davon, wie ihr Leben aussehen muss, damit es gelungen ist. Und wir steuern unser Leben immer auf dieses Bild zu.  In meinem Leben ist es mir nun einige Male passiert, dass ich mich auf dieses Bild zubewegt ist, aber es nicht erreichen konnte oder das Glück nur von kurzer Dauer war. Als ich dann noch in den Senioreneinrichtungen einen Einblick in die Lebenswelt von Menschen bekommen konnte, die am Ende ihres Lebens stehen und wo sich die Frage nach der eigenen Lebensbewertung noch viel dringender stellte, habe ich mir die Frage gestellt:

Sind meine inneren Bilder davon, was ein gelungenes Leben ausmacht, wirklich tragfähig in den Krisen des Lebens?  Soll, dass was mich glücklich macht, wirklich das sein, was ich in meinem Leben mit harter Arbeit erreiche aber garantiert loslassen muss, wenn ich ans Ende meines Lebens komme. Im Kosten-Nutzen-Jargon würde man hier die Frage nach der Effizienz stellen.

Doch eigentlich geht es nicht primär um Effizienz. Vielmehr möchte ich mitteilen, was mir wichtig geworden ist:

Das Leben so anzunehmen wie es ist und auf dieser Realität ein Fundament zu bauen und eine Perspektive zu entwickeln, die tragfähig ist.

Was hat das mit Angst zu tun? Fast alle unserer Ängste lassen sich mit Verlust begründen. Verlust einer Lebensphilosophie, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust eines geliebten Menschen, Verlust meines Ansehens und sogar Verlust meines Lebens. Und diese Ängste kann ich reduzieren, vielleicht sogar vermeiden, wenn ich mir früher Gedanken über mein Fundament mache.

Dieser Schritt muss beim Auftreten von Angst natürlich nicht jedes Mal bedacht werden. Es handelt sich hier um eine mehr grundsätzliche Frage.

Doch was kann ich jetzt tun, wenn ich die Schritte eins und zwei getan habe? Damit komme ich zu Punkt vier (der auch der letzte meines Artikels ist).

  1. Fokus auf das was mich Angst vergessen lässt.

Damit unser Körper wahrnehmen kann, dass die Angst unbegründet oder sinnlos ist, fokussiere ich mich auf das was meiner Angst entgegen wirkt.  Natürlich ist es wichtig eine reale Angst anzunehmen und ganz praktisch etwas dagegen zu unternehmen. Doch wenn Angst zu einem Dauerzustand wird, muss sich der Körper daran gewöhnen, dass die Signale die er sendet, den realen Begebenheiten  nicht angemessen sind. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, indem ich einen Spruch oder ein Zitat wiederhole, dass mir Kraft gibt. Oder dass ich meine Gefühle niederschreibe, zu ihnen rede und meinem „Ich“ signalisiere, dass es sich nicht zu fürchten braucht. Oder in dem ich mir Statistiken vor Auge führe, die zeigen wie gering eine Gefahr eigentlich ist. Oder in dem ich mir durch Sport vor Augen führe, dass ich meinen Gefühlen nicht passiv gegenüberstehe. Es geht nicht darum gegen deine Gefühle zu kämpfen. Das ist nicht gut und bringt auch nicht gut.

Stelle dich stattdessen innerlich neben deine Gefühle, betrachte sie wie ein Beobachter und mache dir deutlich, dass sie nicht den Kurs deines Lebens bestimmen.

Wie gehst du mit Angst um? Und hast du auch Dinge gefunden die gegen Angst helfen? Oder hast du noch Fragen? Dann teile sie unten in der Kommentarzeile mit.

Nur wer den Weg kennt erreicht das Ziel

Wer kennt es nicht aus Fernsehdebatten, Vorträgen oder Diskussionen – es wird mit bunten Farben eine Vision gemalt. Ein Ziel, wie Gemeinschaft sein soll. Ein Traum von etwas Besserem. Und dann passiert – nichts. Oder nicht viel.

Warum?

Weil die Vision zwar schön und erstrebenswert ist, aber eigentlich keiner weiss, wie sie zur Realität werden kann. Nur wer den Weg kennt erreicht auch sein Ziel. In diesem Artikel wirst es darum gehen, wie ich die Werte von “Radikal ausgeglichen”, die ich in den Kernwerten zusammengefasst habe, erreichen will. Wie man Gegensätze wertschätzen kann, eine Haltung des Voneinander Lernens entwickeln kann und sogar Menschen mit Meinungen die man für völlig falsch hält, nicht einfach ignoriert.

Denn mal ehrlich: Hast Du nicht schon oft versucht so zu leben und festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist? Oder hast Du es vielleicht noch nie versucht, weil Du es sowieso für völlig unrealistisch hältst? Das wir das so schwierig finden hängt wohl damit zusammen, dass Gefühle und Sympathien unserer Kontrolle entzogen sind. Wir können es noch so sehr verleugnen, unsere Gefühle werden uns signalisieren, dass wir jene Person wichtiger oder attraktiver finden als eine andere. Denke nur daran, wie das war, als Du in einer andere Person verliebt warst. Du kannst einfach nicht logisch erklären, warum diese eine Person liebenswerter ist als andere. Wir können unsere Gefühle nicht kontrollieren oder ihnen befehlen zu kommen und zu gehen, wie wir es gerade wollen.

Das hat uns zu einer weitverbreiteten Annahme verleitet: Gegen unsere Gefühle können wir nichts machen, deswegen folgen wir ihnen einfach.

Wenn Du das denkst, möchte ich Dir etwas sagen, was für Dich neu klingen wird. Denn dass wir gegen unsere Gefühle nichts ausrichten können ist nur die halbe Wahrheit.

Unsere Gefühle sind wie ein Schiff

Natürlich ist es richtig, das Gefühle kommen und gehen und dass wir nicht einfach sagen können: “Ich möchte das fühlen und das nicht.” Doch auch wenn wir unsere Gefühle nicht kontrollieren können, so können wir sie doch steuern. Unsere Gefühle sind nämlich wie ein Schiff. Wir leben auf diesem Schiff und es trägt uns in eine bestimmte Richtung, mal nach Osten, dann wieder nach Westen. Doch wir sind diejenigen, die dieses Schiff steuern. Und mit einer feinen und leichten Kursänderung, bestimmen wir die Richtung die das Schiff nimmt. Wenn wir den Kurs ändern sind wir immer noch am fast gleichen Ort. Warum? Weil es Zeit braucht bis sich das Schiff fortbewegt. Und wenn wir das Schiff nicht gerade mit einer Hauruckbewegung des Steuers sofort ändern, sondern die Richtung nur fein justieren, wird erst nach einiger Zeit sichtbar, dass wir den Kurs geändert haben. Und so können wir durch eine innere Neuausrichtung auch unsere Gefühle auf lange Sicht hin ändern.

Ich möchte an dieser Stelle ein Dir vielleicht unbekanntes Wort einführen. Aber keine Angst, ich werde es gleich erklären. Der Weg um unsere Gefühle zu steuern heisst Kontemplation. Kontemplation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie “den Blick auf etwas zu richten”. Kontemplation hilft uns auf natürliche Weise Zugang zu positiver Energie zu finden. Zum Beispiel kann ich an einer herrlicher Blumenwiese in hektischer Getriebenheit vorbeigehen oder ich kann anhalten und den Eindruck auf mich wirken lassen.

Was werden meine Gefühle beim Anblick der Blumenwiese wohl tun? Sie werden positiv angeregt. Dabei ist es wichtig, dass ich mich zunächst entscheide mich zu öffnen und den Eindruck auf mich wirken zu lassen. Ich treffe also erst eine Entscheidung, die dann bestimmte Gefühle auslöst. Dabei kann es auch zu sogenannten Initiationsmomenten kommen. In diesen Momenten werde ich von etwas berührt, was mich noch nie zuvor angesprochen hat. Ich nehme zum Beispiel zum ersten Mal wahr, wie beruhigend das Plätschern des Baches auf mich wirkt. Dabei speichern meine Nervenzellen die positive Erinnerung in meinem Unterbewusstsein. Diese neue Erfahrung kann ich verstärken in dem ich sie mir wieder bewusst mache.

Kurz zusammengefasst: So wie wir den Kurs eines Schiffes auf die Dauer verändern können, so können wir durch bewusstes Betrachten auch unsere Gefühle steuern. Was Du betrachtest wird Dich prägen. Diesen Zusammenhang kannst Du nicht ändern. Du kannst Dich aber entscheiden, was Du betrachtest. Dabei ist es wichtig auch hier wieder “radikal ausgeglichen” zu sein. Wenn ich sage, dass du die Landkarte deiner Gefühle ändern kannst, dann geht Das nicht unbegrenzt. Wenn Du Dich entscheidest, dein Schiff auf Land zu steuern, wird es an natürliche Grenzen kommen. Du wirst kaum ändern können, dass Du für manche Menschen mehr Sympathien aufbringen wirst, als für andere. Aber Du kannst für alle Menschen genügend Sympathien entwickeln um gut mit ihnen auszukommen.

Let’s get practical

Wie also kann ich lernen ein positives Bild von der Welt, mir selbst und meinen Mitmenschen zu entwickeln?

Zunächst einmal muss ich mich dafür entscheiden. Ich treffe die einfache und simple Entscheidung, dass es etwas Erstrebenswertes ist, die Welt so zu sehen. Religion kann da etwas Unterstützendes sein, manchmal aber auch etwas Hinderliches. In der Religion (zumindest in der christlichen, in der ich bewandert genug bin) ist der Mensch Geschöpf und daher “gewollt.” Es gibt hier also eine gute Grundlage, warum ich ein positives Bild von mir und meiner Umwelt haben darf. Religion kann aber auch etwas Hinderliches sein, wenn das Gebot der Liebe Pflicht oder Zwang auslöst. Dann ist es wichtig, dass ich nicht nur deswegen meinen “Nächsten” lieben möchte, um nicht verurteilt zu werden, sondern weil ich von dem Gebot der Nächstenliebe innerlich überzeugt bin (dieser Exkurs für meine vielen christlichen Freunde!).

Wenn Du Dich also entschieden hast, dann mache einmal Folgendes.

Nimm dir einmal Zeit, über die Talente, oder Leistungen eines Menschen in deinem Umfeld nachzusinnen. Führe Dir Situationen ins Bewusstsein, in der Dir die Talente oder Leistungen dieses Menschen in Bewusstsein gekommen sind. Vielleicht waren es auch nur kleine Gesten. Sie sind der Anfang von allem. Wenn Dir etwas eingefallen ist, schreibe es auf. Bewahre Dir das Geschriebene und hole es in einer Woche noch einmal hervor. Nun betrachte es. Nimm wahr was du fühlst. Wenn Neid oder Ähnliches hervorkommen, mache eine Liste mit Dir selbst. Das hilft dann, dir deiner eigenen Talente besser bewusst zu werden. Es besteht kein Grund zum Neid, wenn wir verstehen, dass wir eine ganz einzigartige Kombination an Talenten haben und gar kein Grund besteht neidisch zu sein. Lass es einfach wirken. Und Du wirst merken, wie sich dein Bild von der Person mit der Zeit verändert.

Wie Du merkst ist diese Übung nicht anstrengend. Wir ändern unsere Gefühle nicht in dem wir uns zusammen reissen, sondern in dem wir die Welt aus einer Perspektive betrachten, die gut tut und damit unsere Gefühle füttern. Und schenke den Stimmen in Dir, die Dir sagen wollen, wie kindisch das alles ist, kein Ohr. Es wirkt vielleicht nur deswegen kindisch, weil es in deiner Umgebung keiner macht. Aber spätestens wenn Du merkst, welche Sicherheit aus einem kontemplativen Lebensstil entsteht, wird aus dem was jetzt albern wirkt, vielleicht sogar etwas richtig Cooles.

Willst Du Dich heute auf den Weg machen, die Welt anders anzusehen? Dann leg los, denn den Kurs den Du heute vorgibst, wird bestimmen wie das Ziel aussieht, dass du in der Zukunft erreichst.

Fünfter Kernwert: Soziale Isolation immer wieder durchbrechen

Radikal ausgeglichen zu sein bedeutet jeden Menschen ernst zu nehmen. Das kann sehr unbequeme Konsequenzen haben. Menschen wirklich ernst zu nehmen und ihnen mit einer offenen Haltung zu begegnen, klingt zwar zunächst ziemlich gut, kann aber in der Praxis sehr herausfordernd sein je extremer die Ansichten meines Gegenübers sind.

Ein kurzes Beispiel zur Erklärung.

In der Sendung „Hart aber fair“ wurde nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke durch einen Rechtsextremen eine Diskussion zum Thema „Wie gefährlich ist rechter Hass?“ ausgestrahlt (ausgestrahlt am 01.07.2019). Dabei führte die Einladung eines AfD-Politikers zu einem Shitstorm. Man dürfe rechten Hetzern keine Stimme geben bei einem solchen Thema. Das würde rechtsextremes Gedankengut im öffentlichen Raum noch mehr salonfähig machen. Doch die ARD stand zu der kontroversen Entscheidung. Meiner Meinung nach zu Recht.

Denn wir müssen einfach überlegen, was wohl passiert wäre, wenn der AfD-Politiker wieder ausgeladen worden wäre.

Egal ob du die AfD ganz toll findest oder dir wünscht, sie würde so schnell wie möglich wieder verschwinden, können wir wohl darüber übereinstimmen dass sie in gewisser Weise die extremste der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ist. Dabei formuliere ich extrem im Sinne von „am meisten anders als die anderen Parteien“. In der AfD wird Vieles grundsätzlich anders gesehen als in den anderen Parteien. Das ist an und für sich nichts Negatives. Wer „out of the box“ denkt, sieht Probleme, die kein anderer erkennt. Auf der anderen Seite heisst es auch nicht, dass die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, richtig sein müssen. Letztlich muss eine sachliche Diskussion stattfinden, um zu einer Beurteilung zu kommen, die ich an dieser Stelle nicht führen möchte.

Auch extremen Gedanken Raum zur Artikulation geben

Eine solche sachliche Diskussion kann aber nicht stattfinden, wenn ich die Andersdenkenden auslade!

Das bringt mich zu unserem letzten Kernwert: Auch extreme Meinungen nicht vor zu verurteilen, lächerlich oder mundtot zu machen. Es kann in einigen Fällen sinnvoll sein, ein öffentliches Statement in einem gewissen Rahmen nicht zuzulassen, gerade wenn eine gewisse Verantwortung für Meinungsbildung gegeben ist. Gleichzeitig ist es im Informationszeitalter zunehmend schwierig geworden, Menschen vor Menschen mit unbequemen Meinungen zu schützen. In den sozialen Medien kann jemand heutzutage fast alles finden, was er finden möchte. Stattdessen sollten wir nach besseren Möglichkeiten suchen, um Ansichten die wir für gefährlich halten nicht stark werden zu lassen. Zum Beispiel positive Visionen zu zeichnen, in denen sich jeder wieder finden kann.

Doch zurück zu unserer Diskussion. Angenommen, die ARD hätte den AfD-Politiker wieder ausgeladen. Was hätte das für Menschen, die der AfD nahe stehen wohl signalisiert?

Hätte es sie überzeugt, dass ihre Ansichten nicht attraktiv sind und sie ihre Meinungen dringend überdenken sollten? Hättest du das in so einem Fall getan? Ich denke, eine Antwort erübrigt sich. Die Versuche jemanden mit Sanktionen und Ignoranz zum Umdenken zu bewegen, entspricht einer schlechten Kleinkind-Pädagogik. Und selbst wenn man den Eindruck bekommen kann, dass manche Erwachsene sich bis heute einige Kleinkind-Attitüden behalten haben, will ich das persönlich nicht auch noch bestätigen.

Unsere Handlungen haben immer Auswirkungen

In den anderen Artikeln über die Kernwerte habe ich darüber geschrieben, dass wir uns nicht einfach dauerhaft isolieren können, in der Hoffnung unsere Konflikte lösen sich in Luft auf. Unsere Handlungen haben immer Auswirkungen auf unsere Umgebung. Die Umwelt zeigt das am Deutlichsten, sie macht nicht Halt an Ländergrenzen und keinen Unterschied zwischen Rasse, Geschlecht und sozialem Stand. Der Gedanke dass Isolierung und Trennung eine dauerhafte Lösung vor Problemen sein könnte, ist meines Erachtens einer der zentralen Gründe für die soziale Spaltung einer Gesellschaft, denn er führt zur Ausgrenzung. Ausgrenzung aber führt dazu, dass Menschen sich zunehmend nicht mehr verständigen können. Das Gefühl sich sprachlich nicht mehr mitteilen zu können, kann dann dazu führen, dass man auf eine andere Sprache zurückgreift, um seinen Frust kundzutun: Gewalt.

Einen konstruktiven Umgang mit dem anderen einüben

Ein gutes Beispiel für diese Dynamik ist meines Erachtens in der Studentenbewegung in den sechziger Jahren zu finden. Die relativ kleine Gruppe, die gesellschaftliches Leben anders lebte als die grosse Menge, wurde von den Politikern grossteils ignoriert. Eine kleine Gruppe aus dieser Bewegung trieb es schliesslich in den Terrorismus, mit der RAF als der prominentesten gewalttätigen Gruppierung, die aus der Studentenbewegung hervorging. Dabei führten RAF-Mitglieder den Schritt in den Terrorismus direkt auf die Ignoranz zurück, die der Studentenbewegung durch das politische Establishment entgegen gebracht worden war und der sie zu dem Schluss verleiten liess ihre Ziele nur noch auf dem Weg der Gewalt erreichen zu können.

Denken wir uns stattdessen folgendes Szenario: Die Politiker und Verantwortlichen hätten nach kurzer Verwunderung und Bestürzung den Schluss gezogen, dass sie etwas Wichtiges offensichtlich nicht beachtet hatten. Das ist nicht einmal besonders schlimm, es ist für den Berufspolitiker sicher nicht einfach, immer im Blick zu behalten, was sich in einer pluralen und höchst unterschiedlichen Gesellschaft gerade bewegt. Und nun angenommen, sie hätten sich eine Haltung des Voneinander-Lernens und Verstehenwollens beibehalten. Man hätte sicher nicht alles umgesetzt, was die Studenten für erstrebenswert hielten, denn auch jede Oppositionsbewegung sieht manches verzerrt. Doch man hätte so viel Dampf aus der gesellschaftlichen Kontroverse nehmen können mit ein bisschen Demut und Bemühen um Verstehen und vielleicht sogar die Radikalisierung verhindert.

Immer wieder die Beziehung suchen

Was ist die Schlussfolgerung aus diesem letzten und vielleicht kontroversesten Kernwert?

Auch mit Menschen mit extremen, ja sogar mit gefährlichen Meinungen das Gespräch weiter zu suchen. Wenn wir uns als Familie verstehen, glauben wir, dass auch der andere Mensch mit extremen und vielleicht absonderlichen Meinungen uns etwas zu sagen hat, denn er ist immer noch ein Mensch und auch wenn ich die Interpretationen seiner Erfahrungen nicht teile, so nehme ich doch seine Erfahrungen und Erlebnisse ernst.

Jede Form von Ignoranz und sozialer Isolierung sagt dagegen nichts anderes, als dass der Mensch mir egal ist. Dann lebt er aber immer noch mit mir auf dieser Welt und unser Leben ist auf komplizierte Art miteinander verwoben. Wir sind wie ein Ökosystem untrennbar miteinander verbunden. Ich müsste ihn schon auslöschen, damit ich sicher sein kann, dass er mir nicht begegnet und sein Verhalten keine Konsequenzen hat. Doch dieser Gedanke ist der Beginn jeder humanitären Katastrophe.

Es ist die Wertschätzung voreinander die uns zum Fremden treibt und das Bewusstsein, dass wir einander brauchen um gut zusammenleben zu können.

Der Weg dorthin aber ist nicht einfach. Für manch einen sogar unmöglich . Das ist okay für den Moment und wir sollten nicht erwarten dass Gräben schnell überwunden werden. Aber es darf kein Dauerzustand bleiben!

Jeder kann für dich der Fremde sein. Der Wutbürger, der Flüchtling, die Homosexuelle, die Christin, der Moslem, der Fussballfan von der gegnerischen Mannschaft. Aber eines ist sicher: Weil wir einander wertschätzen und sogar benötigen, suchen wir immer wieder die Beziehung.

Vierter Kernwert: Wir wollen beständig lernen und verstehen

Es dürfte in den letzten Kommentaren deutlich geworden sein, dass die innere Einstellung und Haltung bei „Radikal ausgeglichen“ wichtiger ist, als das äusserlich Sichtbare. Die Lebenseinstellung eines Menschen ist wie ein Dirigent, der die Entwicklung und das was äusserlich sichtbar ist, steuert.

Nicht anders ist es auch bei dem vierten Kernwert: Eine Einstellung des Lernen- und Verstehenwollens bei zu behalten. Wichtig dabei ist: Das bedeutet nicht, keine klaren Meinungen zu haben. Das wäre nicht radikal ausgeglichen. Es bedeutet vielmehr, seine Meinung jederzeit ändern zu können.

Voneinander zu lernen ist immer möglich

Dabei ist es immer möglich vom anderen zu lernen, selbst wenn mich seine Sachargumente nicht überzeugen. Stell dir vor du triffst einen Menschen, der davon überzeugt ist, dass die deutsche Stadt Bielefeld nicht existiert (es gibt ja die Bielefeld-Verschwörung, Näheres dazu findest du im WWW). Du bist dir dagegen ganz sicher, dass die Stadt Bielefeld existiert. Was ist deine innere Haltung? Willst du deinen Gegenüber davon überzeugen, wie unwissend er ist und dass du über die Wahrheit sehr gut Bescheid weißt. Oder bist du daran interessiert daran zu verstehen, warum der Mensch so denkt?

Ich bin absolut davon überzeugt, dass Bielefeld existiert. Doch mittlerweile habe ich mir eine Haltung angewöhnt, sogar die Begründung der absonderlichsten Meinungen interessiert anzuhören. Und selbst wenn ich auf einer sachlichen Ebene nicht überzeugt wurde, so habe ich doch etwas gelernt: Zu verstehen, wie Menschen zu einer so anderen Meinung kommen können. In diesem Fall erzählt mir der Mensch nichts Neues auf einer sachlichen Ebene sondern über seine Biographie, also wie er zu seiner Überzeugung gekommen ist. Und wenn mein Ziel ist, Leben auf allen Ebenen zu fördern, ist mir sehr daran gelegen, wie Menschen zu gewissen Überzeugungen kommen. Denn sie bauen eine Brücke und eine Verbindung zu einem Menschen der von mir davor bloss in eine mehr oder weniger sympathische Schublade gesteckt worden war.

Die vier Ohren und die grüne Ampel

Ich möchte an einem einigermassen bekannten Beispiel veranschaulichen, dass es verschiedene Ebenen gibt, auf denen wir lernen und Informationen gewinnen können. Lernen und verstehen zu wollen betrifft also nicht nur die sachliche Ebene.

Friedemann Schulz von Thun beschreibt vier verschiedene “Ohren” mit denen wir Informationen aufnehmen können (Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden). Diese Ohren hören eine Botschaft auf unterschiedlichen Ebenen. Als Beispiel beschreibt Schulz von Thun das in einem Szene in der ein Auto mit Fahrer und Beifahrer auf eine Ampel zufährt. Während sie sich der Ampel nähern, sagt der Beifahrer: “Die Ampel ist grün.” Der Fahrer kann diese Aussagen nun auf die vier verschiedenen Weisen hören, für die die “Ohren” stehen. Das erste Ohr ist das “Sachohr” , welches die Information an sich hört. Wenn der Fahrer die Information nur auf der sachlichen Ebene verarbeitet, erfährt er nichts Neues. Er sieht selber, dass die Ampel grün ist.

Doch er kann die Nachricht auch auf dem “Appell-Ohr” und dem “Beziehungsohr” hören. Kurz zusammengefasst hören wir mit dem Appell-Ohr Aufforderungen. Hier hört er hinter der Aussage mit der grünen Ampel, den Befehl “Gib Gas”. Das Beziehungsohr hört dagegen immer ein Beziehungsgeschehen heraus. Hier wird die Aussage über die grüne Ampel dahingehend interpretiert, dass der andere mich für einen langsamen Fahrer hält und wahrscheinlich unzufrieden mit meinem Tempo ist. Zuletzt kann ich die Aussage noch auf dem “Selbstoffenbarungsohr” hören. Hier teilt mir der andere etwas über sich selbst mit. Hier lerne ich also etwas über den anderen! Der Beifahrer scheint ein aufmerksamer Beifahrer zu sein. Doch er ist nicht nur aufmerksam, er mischt sich auch ein. Anstatt die Aussage als eine Kritik an meinem Fahrstil zu sehen, kann ich also schon zwei offensichtlich positive Eigenschaften bei meinem Beifahrer erkennen: Er ist aufmerksam und proaktiv. Ich kann also von dem was eine Person sagt immer etwas lernen, wenn ich mit dem Selbstoffenbarungsohr höre. Und vielleicht manche dieser positiven Eigenschaften für mich übernehmen.

Nicht alles ist richtig, aber alles ist wichtig

Wenn wir die Wahrheit nur in Stücken erkennen (wie im immer noch gültigen postmodernen Paradigma), dann ist die persönliche Ebene mindestens genauso wichtig wie die sachliche Ebene. Denn das sachliche Argument einer Person äussert sich immer innerhalb ihres persönlichen Hintergrunds. Die Biographie und die persönlichen Verletzungen einer rassistischen Persönlichkeit können mir helfen, zu verstehen wie diese Person zu ihren Überzeugungen kommt, selbst wenn ich sie nicht teile. Ich konnte immer wieder feststellen, dass wenn ich Menschen auf einer verständnisvollen, anteilnehmenden Ebene begegnete, ich ihnen auch auf eine konstruktive Weise widersprechen konnte.

Es ist klar dass nicht jede Meinung richtig sein kann. Doch will ich festhalten, dass die Meinung jedes Einzelnen wichtig ist. Die Worte „Wichtig“ und „Richtig“ unterscheidet nur ein Buchstabe. Doch den Unterschied zwischen beiden zu verstehen ist zentral. Richtig soll hier bedeuten, dass das Argument für sich genommen vollkommen korrekt ist so wie eins plus eins zwei gibt. Hier muss nicht mehr gesagt werden.

Wichtig bedeutet dagegen, dass das Argument entscheidend dazu beiträgt um die ganze Wahrheit abzubilden. Wenn eine Person Angst hat vor der “Überfremdung des Abendlands” dann bildet diese Aussage einen Teil der Wahrheit ab, weil die Angst der Person real ist und nicht ignoriert werden darf. Gleichzeitig sagt sie nichts darüber aus, ob es im Allgemeinen angemessen ist, von einer Überfremdung des Abendlandes zu sprechen. Diese muss in einem allgemeinen Diskurs ermittelt werden.

Vielleicht ist die Erkenntnis, das Selbstoffenbarungsohr berücksichtigen zu müssen für dich nichts Neues. Doch wenn du siehst, wie viele Diskussionen ohne “Ich-Botschaften” versuchen ihre Agenda durchzudrücken, dann wird vielleicht deutlich, dass dieses Ohr bei Vielen von uns noch nicht besonders gut hört. Es muss trainiert werden!

Du kannst dir jetzt also für die nächste Diskussion fest vornehmen, den Mensch hinter der Fassade verstehen zu wollen und vielleicht eine persönliche Frage zu stellen.

Das ist meines Erachtens auch der Schlüssel für einen guten Umgang mit Meinungen die am äusseren Rand des üblichen Spektrums liegen und oft kontrovers diskutiert werden. Dazu mehr im Artikel über den fünften Kernwert “Keine Meinung wird ignoriert.”

Dritter Kernwert: Wir wenden uns dem anderen bewusst und wertschätzend zu

Nach dem zweiten grossen Weltkrieg und Millionen von Opfern verkündete die noch junge UNO am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In ihr wurde formuliert, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten sind (Artikel 1 AEMR). Diese Rechte sollten jedem Menschen zustehen, ohne Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand (Artikel 2 AEMR).

Die Formulierung der UNO passte gut in diese Zeit, die in den allmählichen Übergang von der Moderne in die Postmoderne fiel. Bisher war Meinungsfreiheit und individuelle Lebensplanung des Einzelnen kein hohes Gut gewesen. Man hatte zwar die vormoderne Zeit mit ihren Monarchen und absolutistischen Herrschern schon lange hinter sich gelassen, aber auch die Moderne war noch von viel Konformzwang und dem Kampf um gesellschaftliche Ideologien mit Absolutheitsanspruch bestimmt. Die Freiheit des Einzelnen galt noch immer wenig und herkömmliche Traditionen bestimmten oft was gut und richtig war. Natürlich ist das sehr plakativ dargestellt, aber es trifft doch die Tendenz.

Doch die UN-Menschenrechtskonvention ist ein gutes Beispiel für den Paradigmenwechsel zur Postmoderne hin. Der revolutionäre Gedanke, dass jeder Mensch frei sein sollte, sowohl in seiner persönlichen Meinung, als auch in der Ausübung seines Lebens und universale Rechte geniesst bekam neuen Aufschub. Nun würde nicht mehr der erhabene Herrscher aus Gottesgnaden oder Diktatoren einer ideologischen Bewegung den Kurs bestimmen, sondern jeder Einzelne. Hier hat jeder die Freiheit und das Recht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die postmoderne Gesellschaft ist im Idealfall eine Gesellschaft der friedlichen Koexistenz, ein Nebeneinander statt ein Übereinander. Und sie ist eine Gesellschaft, die das Individuum aufwertet.

Ein Wiederaufflackern von Phänomenen der Moderne

Doch dieses Modell hat Risse und Narben bekommen. Ungezügelter Egoismus ist der negative Nebeneffekt der durch die Aufwertung des Individuums entstanden ist. Und viele Menschen wünschen sich wieder Leiter und Regierungen die den Kurs klarer vorgeben. Mit dem Aufkommen des Populismus tauchen Politiker auf, die gerne provozieren. Für nicht wenige Menschen sind sie die starken Anführer, denen sie zunehmend unkritisch hinterher laufen, weil sie sie für die “Retter des Abendlandes” halten. Auf der anderen Seite bildet auch die Idee eines europäischen Superstaats die Hoffnung, dass ein zentralistischer Staat der Zersplitterung der pluralen Gesellschaft entgegen treten kann. Dabei erweckt die Regierung mit einer Präsidentin, die im Hinterzimmer von einigen wenigen bestimmt wird, nicht gerade so, als ob der Wille des Bürgers wirklich ernst genommen wird.

Doch wie sollen wir nun mit dem ungezügelten Egoismus umgehen? Wie sollen wir mit Ideen und Meinungen umgehen, die wir nicht nur für falsch, sondern sogar für gefährlich halten?

Kann man Toleranz gegenüber Meinungen aufbringen, die die Freiheitsrechte anderer missbrauchen? Ist das dann nicht selbst intolerant, wenn man versucht die Freiheit von Menschen deren Meinung man für gefährlich hält, zu unterdrücken? Ist das nicht wieder ein Rückgriff in einen hässlichen Meinungstotalitarismus, der in der Zeit vor der Postmoderne für so viel Elend gesorgt hat?

Um meine Meinung deutlich zu machen: Ich denke wir machen einen Fehler, wenn der Versuch unternommen wird über die Köpfe von Bürgern hinweg zu regieren. Hier würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden und die Rückkehr in die Zeit vor der Postmoderne betrieben.

Sozial orientierte Individualität gegen den Individualismus der Postmoderne

Was wir vielmehr benötigen ist eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das die persönliche Freiheit aus der Postmoderne integriert. Ich werbe für diesen Ansatz unter anderem in dem Artikel über eine kurze Geschichte gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dort habe ich dafür geworben, die Grunderrungenschaft der Postmoderne, die individuelle Freiheit als einen starken Wert hochzuhalten, doch gleichzeitig das Bewusstsein für unsere Verantwortung untereinander hochzuhalten.

Ich habe überlegt diesen Kernwert „Die Menschheit als Familie verstehen“ zu nennen. Ich habe es dann bleiben lassen, weil ich nicht wollte, dass jemand denkt, ich vertrete eine flauschige “Wir-haben-uns-alle-lieb”-Theorie.

Doch der Begriff “Familie” impliziert zumindest etwas, was diese Bewegung zu einem Bewusstsein unserer Verbundenheit (wir sind in einer vernetzten Welt verbunden, ob wir es wollen oder nicht) veranschaulicht. Denn eine Familie, zumindest eine gute, zeichnet etwas Bestimmtes aus, was eine pluralistische Gesellschaft nicht automatisch berücksichtigt. Beziehung!

Beziehung ist ein wesentliches Element einer gesunden Familie. Eine Familie besteht nicht aus einer einzelnen Person, sondern aus verschiedenen Personen die verschiedene Rollen ausfüllen.

Es ist doch ein grosser Unterschied ob ich die Welt als eine Gesellschaft einzelner Individuen mit persönlicher Freiheit betrachte oder als eine Familie, die in Beziehung zueinander steht und in der jeder ein Stück zum gelingenden Miteinander beisteuert. Eine Familie sucht man sich nicht aus (zumindest nicht die Ursprungsfamilie), doch damit es ein harmonisches Miteinander ist, muss jeder einzelner seinen konstruktiven Beitrag leisten.

In einer gesunden Familie legt nicht einfach ein Familienoberhaupt willkürlich fest, was die Agenda ist. Der Zusammenhalt ist nicht auf Konformität und Unterordnung begründet wie das in der vormodernen Zeit und teilweise in der Moderne der Fall war. Stattdessen ist jedem Einzelnen bewusst, dass der Zusammenhalt ein wichtiges Element für ein gutes Zusammenleben darstellt. Der Weg kann immer nur sein, dafür zu werben, dass jeder Mensch seine Mündigkeit als Bürger lebt (das das nicht jeder in gleicher Weise kann ist teilweise natürlich und teilweise eine traurige Sache). So ist das auch ein Aufruf an Menschen aus freien Stücken, nicht von oben verordnet oder gezwungen, in Solidarität, Anteilnahme und Wertschätzung füreinander zu leben.

Von blosser Toleranz zu einem echten Bewusstsein von Wertschätzung

In der Postmoderne haben wir gelernt, Menschen als Individuen mit persönlichen Rechten zu begreifen. Können wir nun den Sprung machen und sehen, dass jeder Mensch auch einen einzigartigen und wichtigen Beitrag zu leisten hat in einer globalen Familie? Wir sollten uns nicht nur tolerieren und gerade so akzeptieren, wir sollten anerkennen, dass wir uns wirklich brauchen und unseren Beitrag ohne den anderen nicht optimal leisten können. Wir brauchen seine Stärken, seine Sicht der Dinge und wir ehren uns in dem wir das anerkennen. Wie bereits im letzten Blogartikel erwähnt, bedeutet das erst einmal Gegensätze wertzuschätzen. Wir müssen weg von unserer egozentrierten linearen Logik, die nur auf unseren eigenen Grundsätzen aufgebaut ist, hin zu einer nicht-linearen Logik. Doch um das zu erreichen, brauchen wir gerade die gegensätzlich denkende Person.

Dabei möchte ich einem möglichen Missverständnis gleich einmal vorbeugen:

Es geht nicht darum, die eigene Meinung aufzugeben oder eine Art Einheitsbrei wertzuschätzen. Es gibt Dinge, die adressiert werden müssen, weil sie nicht hinnehmbar sind und wir müssen – auch durchaus kontrovers – über inhaltliche Themen sprechen. Doch ich habe oft beobachtet, dass eine echte Sachdiskussion nicht möglich ist, wenn wir zu stark in der linearen Logik und unserer eigenen Wahrnehmung gefangen sind.

Toleranz und Akzeptanz sind die Grundwerte für ein friedliches Nebeneinander in der Postmoderne. Toleranz wird allgemein mit dem Dulden oder positiv dem Anerkennen anderer – gerade in ihrer Andersartigkeit – verstanden und ermöglicht Freiheit des Individuums, die grosse Errungenschaft der Postmoderne.

In der aktuellen Zeit reichen diese Grundwerte jedoch nicht mehr aus um die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Wenn Toleranz nur als die Duldung anderer anerkannt wird, fordert das nicht von mir mich auf den anderen einzulassen. Toleranz wird stattdessen in immer schrilleren Tönen dazu benutzt um die eigene Meinung gelten zu lassen. Toleranz lässt mir dann die Möglichkeit meine eigene Meinung weiter voll auszuleben ohne mich als ein Mensch zu betrachten, der den anderen benötigt. Toleranz kann dann sogar dazu missbraucht werden, um mich meiner eigenen Grossherzigkeit („ich toleriere dich ja“) zu versichern und mich stattdessen innerlich immer noch über den anderen zu erheben.

Wertschätzung suchen, wo vordergründig nichts erkennbar ist

Das Schlüsselwort für das Miteinander in der Zeit nach der Postmoderne nenne ich Wertschätzung. Echte Wertschätzung sucht im anderen etwas Wertvolles oder zumindest Wichtiges. Und allein die Erkenntnis, dass jeder zumindest potentiell etwas weitergeben kann, von dem ich lernen kann, hilft mir in ihm Wertvolles zu finden selbst wenn es schwierig erscheint. In einem der schmutzigsten US-Wahlkämpfe der Geschichte wurden die Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und Donald Trump von einem Zuschauer in einer Fragerunde im Fernsehen gefragt, was sie denn am anderen jeweils schätzten. Clinton antwortete darauf, sie bewundere Trump für seine Kinder, die ein Vorbild für viele Menschen seien. Es fiel ihr offensichtlich schwer, direkt etwas an Trump zu finden, dass sie schätzte, doch sie gab sich Mühe die Frage zu beantworten und fand schliesslich etwas, das sie schätzte. Immerhin ist es ja unbestritten, dass Eltern einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder nehmen, man konnte es also als indirektes Lob werten (Trump erwähnte Clinton gegenüber übrigens ihre Kämpfermentalität). Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie ich mich bemühen kann, etwas wirklich Wertschätzendes an Personen zu finden, mit denen ich sonst gar nichts teile. Und genau so fange ich an, nicht mehr nur das Schlechte und Abstossende am „Gegner“ zu finden, sondern eine positive Verbindung zu suchen.

Der gegenseitige Austausch hört nie auf

Wir wissen seit der Postmoderne, dass unsere Sicht der Dinge relativ oder zumindest ergänzungsbedürftig ist, wir sollten nun endlich anfangen, auch so zu leben. Doch es geht nur durch die Einsicht jedes Einzelnen und einen Schuss mehr Demut.

Um sich dieses Bewusstsein anzueignen ist es aber wichtig, sich stets als ein Lernender zu begreifen. Wir haben es nie ganz begriffen und lernen beständig voneinander.

Das Prinzip, immer eine Lernender zu sein ist ein weiterer wichtiger Kernwert von „Radikal ausgeglichen.“ Ihr dürft also gespannt sein, was darüber im nächsten Artikel zu lesen sein wird.

Zweiter Kernwert: Gegensätze sind positiv

Die Idee meine Gedanken hier in einen Blog zu stellen, existiert schon eine Weile. Doch es verging einige Zeit zwischen der Idee und der Verwirklichung. Wenn ich auf die Entwicklung der Gesellschaft schaue, auf die Spaltung in vielen Bereichen, dann denke ich eigentlich, dass keine Zeit zu verlieren sei. Dass ich jetzt unbedingt handeln müsse. Früher wäre ich diesen Gedanken vermutlich gefolgt. Doch in den letzten Jahren bin ich ruhiger und gelassener geworden und kann auch einmal Dinge laufen lassen.

Warum?

Ich habe gelernt die Gegensätze Arbeit und Erholung wertzuschätzen. Früher wollte ich sofort etwas ändern, sobald ich Bedarf sah. Was ich sah, empfand ich als so wichtig, dass ich sofort aktiv werden musste. Ich nahm das Leben unheimlich ernst und alles was ich tat unheimlich wichtig. Und dabei legte ich indirekt auch einen sehr kritischen Massstab an andere an.

Dabei glaube ich, dass diese Einstellung gar nicht so selten vorkommt. Wie viele Leute sind so fokussiert darauf ihre Vision zu erreichen? Wie viele Menschen arbeiten bis sie in ein Burnout geraten und ihre Gesundheit für ihre Vision opfern.

Die Schwerkraft der Einseitigkeit

Wie konnte es dazu kommen? Werfen wir einen Blick darauf wie sich die Bewertung von dem was gut und erstrebenswert ist durch unseren Zeitgeist geprägt ist.

Das neuzeitliche Denken und insbesondere die Postmoderne haben zur Befreiung des Individuums geführt. Wir können unsere Lebensentwurf heute selbst gestalten. Allzu fixierte und enge gesellschaftliche Normen verloren dagegen ihren Absolutheitsanspruch. Doch nicht alles was wir tun können ist gut für uns. Nehmen wir das oben erwähnte Beispiel. Wir können unsere Ziele mit Nachdruck verfolgen, doch wenn darunter unsere Gesundheit leidet, überwiegen die negativen Folgen die positiven. Auch meine Gefühle sind nicht immer ein kluger Ratgeber. Der hochgradig Lungenkranke, der immer noch sein Päckchen Zigaretten am Tag raucht, folgt seinen Gefühlen, aber nicht seiner Logik. Es reicht oft nicht einfach nur nachzuvollziehen warum etwas gut oder schlecht für uns ist. Wir benötigen einen echten Perspektivenwechsel. Etwas das den inneren Drang zu einem Aspekt hin ausgleicht. Wir müssen wirklich verstehen, dass alle Dimensionen des Lebens wichtig sind und der Schwerkraft der Einseitigkeit entgegen wirken.

Schattenarbeit ist wichtig

Ich denke dass es immer noch viele Menschen gibt die oft unbewusst immer den gleichen Lösungsansätzen in Krisensituationen folgen. Ich nenne das einen linearen Lösungsansatz, bei dem wir denken, dass einfach eine Verstärkung der erfolgreichen Taktik in Krisen erfolgreich ist. So werden unsere Bewältigungsstrategien oft indirekt zu universalen Prinzipien des Erfolgs – und nicht selten auch der Lösungsansatz für alle Krisen der Gesellschaft.

Doch die Verfolgung eines linearen Lösungsansatzes – ob für sich selbst oder für andere – endet nicht selten in sturem Dogmatismus. Oft sind es gerade die Gegensätze die einen Entwicklungsschritt bringen. Vielleicht hast Du schon von dem Bild von der Wassertonne mit den unterschiedlich hohen Holzlatten gehört. In diesem Beispiel haben wir eine Wassertonne die aus senkrecht aufgerichteten und miteinander verbundenen Holzlatten zusammengesetzt ist, die jedoch alle unterschiedlich hoch sind. Sie hat also an ihrer Öffnung keinen einheitlich hohen Rand. In diesem Beispiel steht das Wasser, dass in die Tonne gefüllt wird für die Menge an Lebensqualität und die einzelnen Holzlatten für je eine Eigenschaft. Die langen Holzlatten symbolisieren die Stärken, kurze Holzlatten die Schwächen. Wenn wir jetzt Wasser hineinfüllen wird sich das Maximum der Wassermenge, also das Maximum der Lebensqualität daran definieren, wie hoch die niedrigste Holzlatte ist. In anderen Worten: Sich treu zu sein, und seinen eigenen Stärken und Idealen nach dem Prinzip „Je mehr, desto mehr“ zu folgen geht nicht auf und verbessert die Situation nicht mehr, wenn die Lebensqualität, durch die Eigenschaft die, man vernachlässigt oder sogar verteufelt hat, reduziert wird.

Dazu muss man anmerken, dass es nie darum geht, alle Latten auf die gleiche Höhe zu bringen. Wir alle haben Eigenschaften und Werte die uns wichtiger sind und andere die uns weniger wichtig sind. Doch wir können nicht einfach unser Leben lang aufs gleiche Pferd setzen und wenn wir alles verloren haben, sagen: „Immerhin bin ich mir selbst treu geblieben.“ Gerade weil wir uns zu lange selbst treu bleiben, ist der Verlust vielleicht geschehen. Stattdessen kommt der Moment wo wir Schattenarbeit betreiben müssen, uns also den Bereichen des Lebens zuwenden, die wir normalerweise vernachlässigen

Die Wertschätzung von Gegensätzen macht uns stärker und gesünder

Es ist also wichtig, Gegensätze wertzuschätzen und Wandlung als etwas Positives zu begreifen. Dafür ist es wichtig von einem linearen Lösungsansatz (Je mehr desto mehr) zu einem nicht-linearen Lösungsansatz (Je geringer die Kluft zwischen den Gegensätzen, desto besser) zu gehen. Vielleicht ist das was der politische Todfeind sagt, also gar nicht so schlecht. Vielleicht benötige ich gerade das, was mir sonst nicht so von der Hand geht. Dabei geht es, das muss ich immer wieder betonen, nicht um sture Gleichmacherei (die absolut gesetzt wieder ein linearer Lösungsansatz ist), sondern ernsthaft zu untersuchen, was in welchem Mass die Lebensqualität erhöht. Wenn wir die Gegensätze wertschätzen, beginnen wir sie nicht mehr zu verteufeln, sondern ein ganzheitliches Leben wertzuschätzen, das die Gegensätze integriert und in einen grösseren, sinnvollen Zusammenhang stellt.

Paradoxe Logik in einer Gesellschaft die Gegensätze vereint

Die Evolution von einem postmodernen Pluralismus in der ich einfach meinen persönlichen Idealen folge hin zu einem integrierenden Partikularismus, der die Gegensätze in einem grösseren Ganzen vereint, ist in der Praxis nicht schnell zu verwirklichen. Wir sind über Jahre geübt worden in einer linearen Logik zu denken, Gegensätze auseinander zu halten, Gut und Schlecht klar und eindeutig zu benennen und den eingetretenen Pfaden zu folgen. Selbst wenn wir seit der Postmoderne behaupten, das Richtig und Falsch nur noch relativ sind, so leben wir doch in der Praxis noch nach dem gleichen Konzept. Der nicht-lineare Lösungsansatz ist in gewisser Weise paradox. Denn er argumentiert nicht im „Entweder-oder“ sondern eher im „Sowohl- als –auch“.

Ein kurzes Beispiel soll die paradoxe Logik veranschaulichen. Du kannst das alles nun lesen und ablehnen. Du kannst mir sagen, dass du mit deiner Erfolgsstrategie immer gut gefahren bist. Doch damit widersprichst du der Theorie nicht zwingend. Denn ich bin ja gerade überzeugt, dass meine eigene Meinung selbst partikulär ist und Ergänzung durch Leute benötigt, die einen anderen Blick auf die Dinge haben. Ich könnte auch einen Blog darüber schreiben, dass es richtig ist sich selbst treu zu bleiben und auf die gleiche Erfolgsstrategie zu setzen. Denn ich bezweifle nicht, dass es Situationen gibt, wo das angebracht ist. Doch von meinem Standpunkt und meinem Erfahrungshorizont aus, sehe ich es im Moment als wichtiger an, der nicht-linearen Logik zu folgen. Niemals würde ich einem Mensch der für einen linearen Lösungsansatz wirbt, widersprechen. Denn wenn ich anfangen würde, Menschen mit gegensätzlicher Meinung als „zwingend falsch“ zu beurteilen, würde ich meinem eigenen Ansatz widersprechen. Wenn du mir dagegen widersprichst, dann bestätigst du mich indirekt, weil ich ja behaupte, dass Widersprüchlichkeit und Gegensätze nebeneinander existieren müssen, damit Leben wirklich gelingen kann. Entscheidend ist nur das beide Ansätze in ihrer Relativität erkannt und nicht verabsolutiert werden.

Eine soziale Vision

Die Gegensätze zu integrieren bedeutet im Prinzip nichts anderes als mehr auf das zu schauen, was uns eint und weniger auf das was uns trennt, was nicht bedeutet, dass wir nicht auch über das Trennende sprechen müssen oder es einfach ignorieren. Wenn es darum geht was uns eint, ist es wichtig uns eben als Teil eines grösseren Ganzen zu sehen, das wie ein Ökosystem miteinander verbunden ist und in dem alle auf irgendeine Weise voneinander abhängig sind.

Erster Kernwert: Die Förderung von Leben auf seinen unterschiedlichen Ebenen ist, worum es geht.

Das Ziel dieses Blogs ist Leben in all seinen Facetten zu fördern. Das klingt wahrscheinlich zunächst einmal sehr abstrakt und wenig greifbar. Doch wenn wir ehrlich sind, ist die Frage was gutes Leben ausmacht, gar nicht so einfach zu beantworten. Meinem Körper kann es gut gehen, doch wenn es mir psychisch schlecht geht, kann das völlig nebensächlich sein. Vielleicht geht es mir in beiden Bereichen gut – körperlich und psychisch – und doch ist die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantwortet und es stellt sich eine innere Leere ein. Man würde dann vielleicht eher von einer spirituellen Krise sprechen. Wenn es eher äußere Faktoren sind, die meine Lebensqualität einschränken, würde man vielleicht eher von sozialen oder ökologischen Faktoren sprechen, die mein Leben limitieren.

Doch nicht selten kommt es vor, dass wir gar nicht genau bestimmen können, wodurch unser Leben gerade eingeschränkt wird. Dazu kommt, dass Probleme auf der einen Ebene Einschränkungen auf einer anderen verursachen können. Wenn es mir zum Beispiel körperlich sehr schlecht geht, passiert es leicht, dass sich dadurch auch mein psychischer Zustand verschlechtert. Lange Erklärung kurz zusammengefasst: Die Einteilung des Lebens in fünf Ebenen wie ich sie im ersten Kernwert formuliert habe, ist willkürlich und in der Praxis nicht immer auseinander zu halten. Und doch halte ich es für wichtig zu betonen, dass das Ziel des Blogs ist Leben in all seinen Facetten zu fördern. Denn zu leicht passiert es, dass wir nicht radikal ausgeglichen sind und versuchen unserem Leben dadurch Qualität zu geben in dem wir eine Dimension bevorzugen.

Das könnte folgendermassen aussehen:

Eindimensional-physisch: Meine Gesundheit ist das Wichtigste! Wenn ich nur darauf achte gesund zu leben und optisch gut zu wirken, ist mein Leben gelungen. Alles was ich habe sind die Millionen von Zellen, die meinen Körper bilden.

Eindimensional-psychisch: Denke positiv! Die Einstellung macht alles aus. Wenn das Glas immer halb voll ist, ist mein Leben ganz erfüllt. Die Kraft meines Geistes ist grenzenlos.

Eindimensional-spirituell: Wichtig ist nur, wo ich herkomme und hingehe. Wenn das erstmal bestimmt ist, ist das Leben hier nicht mehr so wichtig. Gott oder die guten Kräfte werden es schon richten.

Eindimensional-sozial: Alle Probleme des Lebens liegen in den ungesunden Beziehungsstrukturen zwischen den Menschen. Dominanz und Kontrolle der Herrschenden, Ausbeutung der Ärmsten und Rassismus erklären die Probleme unserer Welt.

Eindimensional-ökologisch: Dieser Ansatz begegnet mir eher selten. Vielleicht wird er im Zug der allgegenwärtigen ökologischen Debatte dieser Tage einmal auftauchen. Hier würden alle Probleme dadurch verschwinden, dass wir in Einklang und Frieden mit unserer Umwelt – sowohl der lebenden als auch der unbelebten – sind.

Was ist dein persönlicher Schwerpunkt? Und welchen Bereich hast du bislang vielleicht vernachlässigt?

Wenn die Lösung nur eindimensional betrachtet wird

Um die Thematik noch etwas deutlicher zu machen, möchte ich von einem Erlebnis erzählen, in der genau zwei dieser Ebenen aufeinander gestossen sind. Die Grundfrage ließ sich in etwa Folgendermaßen beschreiben:

Liegt die Lösung von offensichtlichen Problemen in unserer Gesellschaft an ungesunden sozialen und gesellschaftlichen Strukturen oder an unserer Einstellung? Man könnte das auch so formulieren: Sollten wir danach streben, dass die Schranke zwischen Arm und Reich kleiner wird, zum Beispiel durch politische Massnahmen? Sollten wir Minderheiten in besonderer Weise schützen und fördern? Oder sollten wir nicht eher an der Mentalität der Leute ansetzen? Sollten wir ihnen nicht eher helfen eine positive Einstellung zum Leben zu gewinnen, weil Gerechtigkeit auf struktureller Ebene nicht möglich ist?

Zwei Personen diskutierten diese Frage und jeder nahm einen der genannten Standpunkte ein. Schliesslich mischte ich mich ein und vertrat die Ansicht, dass wir Beides brauchen. Eine Veränderung der Mentalität und der sozialen Strukturen. Diesen Ansatz vertrete ich nicht einfach weil, es schön ist jedem ein Teilrecht zu zu gestehen. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass es tatsächlich beides braucht.

Wenn wir die beiden Standpunkte bis zum Ende verfolgen, erkennen wir dass sie für sich allein nicht die Lösung sein können.

Gerechtigkeit und Gleichheit sind auf struktureller Ebene allein nicht zu verwirklichen. Wenn ich zum Beispiel beschliesse in ein Land mit einer fremden Sprache auszuwandern, bin ich wenn man es genau betrachtet Teil einer Minderheit die nicht die Muttersprache des Landes spricht. Deswegen ist es trotzdem nicht vorstellbar, dass zum Beispiel offizielle Dokumente der Behörde in jeder Sprache, von der mindestens ein/e Auswanderer/in sie spricht, verfasst werden. Wenn man nun bedenkt, dass viele Menschen ihre Heimat nicht freiwillig verlassen, lässt sich schnell erkennen dass die Gleichstellung von Minderheiten nie ganz erreichbar ist, wenn man nicht gerade einen bürokratischen Monsterapparat schaffen möchte. Sehr hilfreich ist hier dagegen eine Mentalität schnell eine neue Sprache lernen und verstehen zu wollen.

Doch was ist mit dem anderen Lösungsansatz? Bringt es mehr, Menschen zu helfen, wie sie trotz all der Ungerechtigkeit gut damit umgehen können?

Für sich allein ist auch dieser Ansatz nicht ausreichend. Wenn wir dieses Argument weiter denken, dann bräuchten wir eigentlich kein Gesetz mehr. Sklaverei und Leibeigenschaft könnten wieder eingeführt werden, denn gerade die kraftvollen Spirituals der Schwarzafrikaner sind doch ein Beispiel dafür, wie selbst Sklaven und damit Menschen, die gesellschaftlich unterdrückt wurden eine positive, hoffnungsvolle Lebenseinstellung gewinnen können. (Ich hoffe, dass meine Ironie hinter diesen Worten erkennbar ist!) Menschen, denen Ungerechtigkeit von anderen widerfahren ist, müssten einfach nur die richtige Einstellung gewinnen, und könnten permanent in Zuständen von Ungerechtigkeit leben.

Der Absolutheitsanspruch beider Ansätze ist widersinnig.

Vielfältige Lösungsansätze statt eindimensionaler Erlösungsstrategie

Zu erkennen, dass Leben auf unterschiedlichen Ebenen existiert, hilft uns eindimensionale Ansätze zu vermeiden. Viele Missverständnisse entstehen oft dadurch, dass wir versuchen Leben zu fördern, indem wir unseren “Lieblingsansatz” anwenden und dann feststellen, dass andere Menschen daran gar nicht interessiert sind, weil sie auf eine andere Dimension fokussiert sind. Ich denke es ist in Ordnung eine “Lieblingsdimension” zu haben. Auch ich habe meinen. Doch es ist so entkrampfend zu wissen, dass wir damit nicht jede Person ansprechen und so wertvoll von Menschen mit einem anderen Schwerpunkt zu lernen.

Vielleicht ist das ein Grund, warum unsere Politiker im Moment so wenig Vertrauen genießen: Denn viele Politiker arbeiten nach meiner Beobachtung fast ausschließlich auf der sozialen Ebene ohne die anderen Dimensionen in ihre Kalkulation mit ein zu beziehen. Das ist auch insofern richtig, als dass der Politiker auf politischer Ebene handelt und z.B. kein kein Psychotherapeut oder Arzt ist. Doch wenn in der Politik suggeriert wird, dass Politiker und Parteien die Probleme der Bürger lösen möchten ist dieser Anspruch zu hoch. Politik kann die Rahmenbedingungen verändern, so dass Bürger eine bessere Grundlage für die Gestaltung ihres Lebens finden können. Doch wenn die Qualität von Leben auch von der Mentalität und Einstellung des Einzelnen abhängt, muss auch der Bürger seinen Teil zu einem gelingenden Leben beitragen. Da es für gute Wahlergebnisse aber eher kontraproduktiv ist, zu kommunizieren, dass ein Teil der Lösung immer beim Bürger selbst liegt, wird dieser Aspekt in der Wahlwerbung gerne einmal weggelassen.

Doch das nur ein kleiner Exkurs in die Politik.

Dieser Blog kann sein Ziel nicht genauer spezifizieren, als er es in seinen Kernwerten formuliert hat. Denn was ein gutes Leben ist, kann nur jeder für sich selbst formulieren. Gleichzeitig wäre eine Formulierung die gutes Leben nur unter dem Gesichtspunkt einer der Dimensionen sieht, zu einseitig um die vielen unterschiedlichen Vorstellungen von gutem Leben in ein großes Ganzes zu integrieren. Sie wäre nur radikal in eine Richtung. Doch dieser Blog ist radikal ausgeglichen.