Der schreckliche Krieg in der Ukraine dominiert unsere Öffentlichkeit seit mehreren Wochen. Obwohl sich ein Krieg seit mehreren Wochen und Monaten angekündigt hatte, waren doch viele Menschen und auch ausgewiesene Experten der Überzeugung dass es nicht zu einem offenen Krieg kommen würde. Wie wir heute wissen, haben sie sich geirrt.
Alle diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung oder einen Interessensausgleich sind gescheitert. Wieder einmal scheint der Kompromiss eine weniger attraktive Lösung zu sein, als das Festhalten an den eigenen Prinzipien. Was bedeutet das für die Bemühung eines guten Zusammenlebens auch über nationale Grenzen hinweg? Sollten wir dieses Projekt ebenfalls für gescheitert erklären?
Um es kurz zu machen: Nein, ich habe weiterhin grosse Hoffnung dass wir als Menschen aus unseren Ego-Bunkern und Interessenslagern ausbrechen. Was gibt mir die Hoffnung? Was lässt mich aufblicken?
Als ich diesen Blog Ende 2019 gestartet habe, gab es bereits eine erhebliche Spaltung in unserer Gesellschaft. Diese hat sich in der Folgezeit eher noch verstärkt. Die immer noch nicht ganz überwundene Corona-Pandemie hat ihr Übriges getan. Es war auch für mich schmerzhaft zu sehen, wie die Meinungen von Freunden und Menschen in meinem Umfeld in dieser Zeit auf einmal immer weiter auseinander gingen. Doch je deutlicher diese Unterschiede wurden, desto mehr habe ich bei mir selbst festgestellt, dass meine Überzeugung noch fester wurde: Ich will keine Feindbilder bauen. Auch wenn ich meine eigenen Überzeugungen zu der Pandemie habe, will ich nicht an den Punkt kommen, an dem ich Menschen in Freunde und Feinde einteile. Der Krieg in der Ukraine ist eine grosse humanitäre Katastrophe und jedes verlorene Menschenleben ist eines zu viel. Doch auch dieser Krieg wird meine Überzeugung nicht verändern, dass der mühsame Weg, der eine Kultur des guten Zusammenlebens möglich macht, weiter lohnenswert ist.
Krisenzeiten sind oft auch Zeiten für einen Neubeginn! Krisenzeiten haben das Potential uns auf den Grund des Ursprünglichen zurück zu bringen. Die Suche nach dem Ursprünglichen bringt uns zu dem zurück, was uns alle ausmacht. Ich denke an einen Säugling. Die Bedürfnisse eines Säuglings unterscheiden sich nicht stark von denen anderer Säuglinge. Erst wenn wir älter werden, beginnen sich unsere Bedürfnisse und Interessen immer mehr zu verändern. Wir beginnen zu vergessen, was uns verbindet und eint. Erst wenn es existenziell wird, wird uns das Ursprüngliche wieder bewusst. Das geschieht nicht selten am Ende des Lebens aber auch in Krisenzeiten. Was ist, wenn das was uns eint, viel grundlegender ist, als das was uns unterscheidet? Dann kann jede Krise nur dazu führen, dass das Bewusstsein für das was uns eint, wieder deutlicher wird! Zuerst kommt die Spaltung, doch eine natürliche Folge daraus ist, dass ein gestärktes Bewusstsein für die grundlegende Einheit entsteht.
Tatsächlich kann man trotz der gescheiterten Diplomatie vor dem Ukraine-Krieg auch Argumente dafür finden, dass die Menschen näher zusammenrücken. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Menschen davor eine so weltweite Stimme der Solidarität an diejenigen richten, die vom Krieg betroffen sind. Bislang gibt es keine Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingskontigenten. Die Europäer stehen geschlossen wie selten in ihrer Verurteilung des Kriegs. Und selbst in Russland gibt es viele Menschen die den Krieg als sinnlos empfinden. Das Bewusstsein, dass wir eine Menschheit sind, die miteinander verbunden ist und aneinander Anteil hat, ist mir gerade in dieser schrecklichen Zeit des Krieges noch deutlicher geworden.
Trotzdem entsteht eine Kultur des guten Zusammenlebens nicht einfach automatisch in Krisenzeiten. Es ist eine Sache wenn uns in den existentiellen Krisenzeiten deutlich wird, worin wir uns einig sind und was uns verbindet. Doch es ist eine ganz andere Sache, sich dann bewusst danach auszustecken und sich darum zu bemühen, dass wir uns in den Zeiten des Friedens nicht gleich wieder in unsere unterschiedlichen Lager aufspalten. Zum Beispiel befürchte ich, dass die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine sich abnutzen kann, wenn der Krieg noch länger wird oder wenn steigende Lebenshaltungskosten in Westeuropa die Aufmerksamkeit wieder ganz schnell auf die eigenen Probleme lenken. Und machen wir uns nichts vor: Die Ukraine ist nicht der einzige Kriegsschauplatz auf der Welt im Moment. Im Sudan, in Mali, Nigeria, Somalia, in Libyen und auch immer noch in Syrien finden derzeit bewaffnete Konflikte statt. Diese Konfliktherde sind aber geographisch weiter entfernt, so dass sie uns nicht zu nahe kommen. Was also können wir tun, um nicht zu vergessen?
Es sind die Zeiten des Wahrnehmens und Innehaltens, die uns in Verbindung mit der Not anderer Menschen halten. Kontemplation ist der Weg der meine Gefühle sanft wie ein Schiff steuert und sie an den ursprünglichen Ort unserer ersten Lebensjahre führt. In der Ursprünglichkeit und Verbundenheit mit allen anderen. An den Ort, an dem es keine Feinde gibt, sondern maximal Fremde und im besten Fall Freunde. Für diesen Weg muss ich mich aber jeden Tag neu entscheiden. Ich kann mich schnell wieder in den Debatten verlieren, die die Unterschiede betonen. Oder ich versteife mich darauf, wer nun Recht hat. Darum sind vielleicht die lautesten und auffälligsten Stimmen in diesen Konflikten gerade nicht die, die nachhaltige Lösungen anbieten können. Denn eine Kultur des guten Zusammenlebens, die nachhaltig sein will, entsteht in der hochprofessionalisierten Kultur des Westens gerade nicht durch die messerscharfe Analyse der Konfliktsituation sondern durch eine regelmässige Praxis in der ich lerne meine Gefühle immer wieder mit dem Ort der Ursprünglichkeit zu verbinden.
Ich bin gefragt worden, wann ich einmal wieder einen Blogbeitrag schreibe. Es freut mich natürlich, dass es Bedarf nach neuen Beiträgen gibt. Und ich hätte auch zu vielen zeitgenössischen Themen etwas schreiben können. Da wäre zum Beispiel die Frage, wie ein gutes Zusammenleben mit unserer nicht-menschlichen Umwelt aussehen könnte. Die Zerstörung und Ausbeutung unserer Umwelt und vor allem der Klimawandel zeigen, dass wir unsere Umwelt noch kaum verstanden haben und erst lernen müssen das ein “Interessenkonflikt” mit unserer Umwelt ganz anders gelöst werden muss, als mit sprechenden Menschen. Doch scheint mir im Moment eine Zeit des Schweigens angebrachter als eine Zeit des Produzierens. Diese Zeit des Schweigens ist keine passive Zeit der Ohnmacht, sondern eine Zeit der Achtsamkeit. Denn ich achte darauf, den Ort der Ursprünglichkeit nicht zu vergessen.
Wenn es von mir also auch keine Beiträge im Wochentakt gibt, so will ich dich doch ermutigen: Die Zeit der Stille ist keine Zeit der Untätigkeit und keine Zeit der Resignation. Nicht nur ich, auch viele andere arbeiten in der Stille daran, dass wir nicht vergessen: Wir sind miteinander verbunden. Jede(r) Einzelne ist wichtig! Das Band der Liebe und Anteilnahme, das über blosse Toleranz und leidiges Ertragen hinausgeht, wächst in der Stille.
Wenn du dich für einen weiteren Kommentar zur Kraft des Schweigens in Zeiten des Krieges interessierst, kann ich dir folgenden Link empfehlen: